Hamburg. Im Altonaer Theater feierte „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ Premiere. Ein stark inszeniertes, sehr aktuelles Stück.
In schönstem, klarstem Blau leuchtet der Himmel über Worpswede und auf der rückwärtigen Wand der Bühne im Altonaer Theater. Nichtsahnend kommt der von Dominik Raneburger gespielte Berliner Galerist Paul Wendland in die Künstlerkolonie seiner Vorfahren – doch das Haus des Großvaters und mit ihm sein Erbe drohen vom gefräßigen Moor geschluckt zu werden. Und es wird noch viel schlimmer.
Theater Hamburg: Moritz Rinkes Romandebüt eindringlich auf die Bühne gebracht
Der Grund des Teufelsmoors stellt sich nicht nur als schwankend heraus, es sind darin auch einige Leichen vergraben beziehungsweise lebensgroße Bronzestatuen von Personen der Zeitgeschichte – aber eben auch die einiger weniger ruhmreicher Zeitgenossen, wie sich herausstellen wird. Satter Stoff für eine tragikomische, ironisch aufgerollte Familiengeschichte.
Der Dramatiker und Schriftsteller Moritz Rinke ist selbst im niedersächsischen Torfheide- und Museumsdorf Worpswede aufgewachsen und kennt das Moor und die kauzigen Dorfbewohner aus eigenem Erleben. Ihnen widmete er 2010 seinen ersten Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“. In der Regie von Mathias Schönsee, der gemeinsam mit dem Autor auch die Stückfassung erstellte, erfuhr der Stoff nun eine späte Uraufführung im Altonaer Theater. In Zeiten, in denen die Gespenster der Vergangenheit erneut aus braunen Ecken hervorkriechen, hat diese so gut beobachtete wie nachdenklich stimmende Aufarbeitung einer nationalsozialistischen Familienhistorie tatsächlich nichts von ihrer Aktualität und Dringlichkeit verloren.
Die Bronzestatue in Gestalt eines weiblichen Aktes scheint alles zu überschatten
Ausstatterin Ricarda Lutz hat die Bühne vor dem gemalten Worpsweder Himmel unterteilt. Rechts erhebt sich eine Birke vor dem nicht sichtbaren Haus des Großvaters, des Malers Paul Kück. Links ruht bedrohlich ein gigantischer Schuppen, der die Last der Vergangenheit – und wohl auch manch eingesperrte Seele beherbergt. In der Mitte aber ragt eine Bronzestatue in Gestalt eines weiblichen Aktes empor. Sie scheint alles zu überschatten.
Der von Dominik Raneburger mit gebotenem Pragmatismus, aber auch zunehmender Verzweiflung gegebene Paul Wendland versucht sich mit aller Kraft gegen die Übermacht der Vergangenheit zu behaupten und seinen Weg zu finden. Unterstützung erhält er von dem von Herbert Schöberl gespielten tapferen Onkel mit Sprachfehler als Hausmeister. Die Voraussetzungen sind nicht einfach. Katrin Gerken als selbstbezogene Mutter huldigt ihren 68er-Träumen auf den Kanaren, der Vater, „Hasenmaler“ Wendland folgt bei Ole Schloßhauer seiner eigenen Agenda, verlässt die Familie und geht nach Übersee. In gekonnt ineinander geschnittenen Szenen ist die Vergangenheit immer wieder präsent.
Altonaer Theater: Der Großvater machte eigene persönliche Fehltritte zu Kunst
Auch Kai Hufnagels herrischer Künstler-Großvater Paul und seine Frau Greta (Julia Weden), die um Selbstbehauptung ringt, von ihm aber vor allem wegen ihrer Butterkuchen-Künste geschätzt wird, überzeugen. Der Bildhauer huldigte einer seltsamen Gemeinschaft mit den hohlen Kunstwerken: In ihnen solle Platz sein für ihre Seele, aber auch „für die Geheimnisse, Stärken, Fehler“. Es wird sich herausstellen, dass der Großvater eigene persönliche Fehltritte zu Kunst machte. Und dass er nicht nur Sozialdemokraten wie Willy Brandt, sondern auch einen Nazi-Reichsbauernführer in Bronze goss.
Paul muss nun diese „irren Gespenster“ wegräumen, während seine eigene Berliner Existenz mehr und mehr in die Ferne rückt – nicht nur, weil die Galerie nicht recht laufen will: Seine Freundin Christina zieht es zu beruflichen Herausforderungen an die Universität von Barcelona.
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In Worpswede kursieren derweil Gerüchte und Verdächtigungen. Eine betrifft das Verschwinden der Kommunistin Marie. Angeblich wurde sie in der NS-Zeit von der Gestapo abgeholt. Dann stellt sich heraus, dass sie Teil eines sehr finsteren Familiengeheimnisses ist. Von den Dämonen der Vergangenheit geplagt ist auch der von David Fischer gespielte Peter Ohlrogge. Einst schwer verliebt in Pauls Mutter, doch nach einem körperlichen Übergriff vom „Hasenmaler“ verdrängt, kann er die Umtriebe der Familie Köck nicht ruhen lassen. Nun gräbt und schürft er ohne Unterlass in der Vergangenheit und bald auch ganz real auf dem Grund. Seine eigene Existenz wirkt dabei – inklusive der nur noch käuflich gesuchten Liebe – wie festgefroren.
Theater Hamburg: Die Geheimnisse kommen wie in einem Krimi nach und nach ans Licht
Die wohltuend stringente und vom Ensemble hervorragend gespielte Inszenierung meistert die Herausforderung, die verschiedenen Zeitstränge und Figurenebenen nebeneinander so zu präsentieren, dass das Gesamtbild immer sichtbar bleibt. Die Geheimnisse kommen wie in einer packenden Krimihandlung nach und nach ans Licht. Dabei verhandelt sie aus der Zeit gefallenes Männlichkeitsgehabe und Machtmissbrauch ebenso wie emotionale Konflikte zwischen den Generationen vor dem Hintergrund einer nach wie vor in die Gegenwart ragenden Zeitgeschichte.
„Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ weitere Vorstellungen bis 11.11., Altonaer Theater, Museumstraße 17, Karten unter T. 39 90 58 70; altonaer-theater.de