Hamburg. Choreografin Gisèle Vienne erzählt beim Sommerfestival eine albtraumhafte Geschichte – aber auch von der Kraft der Gemeinschaft.

Ein Nebelmeer ergießt sich über ein paar umherliegende Gesteinsbrocken. Mittendrin ein schwarzes Auto. Die Scheinwerfer gehen an. Im Wagen erinnern sich ein Bruder und seine Schwester an eine Party, lachen, reden, essen Chips. Scheinbar ist alles normal, und doch hat die Begegnung von Anfang an etwas Doppelbödiges, Unheimliches.

„Extra Life“ lautet der Titel der neuen Arbeit der österreichisch-französischen Künstlerin, Choreografin und Regisseurin Gisèle Vienne, mit der sie derzeit beim Sommerfestival auf Kampnagel gastiert. Der düstere Abend handelt vom Versuch einer Trauma-Bewältigung – wobei nebulös bleibt, worin genau das „Extra Life“ bestehen könnte. Vielleicht ja in einer Flucht in Computerspiele und künstliche Welten? Das zumindest deuten die wortkargen Gespräche an.

Mit einem herausragenden Performer-Trio – und einer sehr unheimlichen fahlgesichtigen Puppe – inszeniert Vienne eine Horror-Erinnerungswelt, in der ein Geschwister-Paar sich des Missbrauchs durch den Onkel erinnert. Sie kennen auch noch den Titel der geliebten Zeichentrickserie, die sie nach den Taten immer sehen durften.

Kampnagel: Frankreichs Schauspiel-Star Adèle Haenel scheint im Nebel zu versinken

Durch zeitlupenartige Körperbewegungen machen sie ihren Schmerz sichtbar, brechen den Raum des Schweigens und des Verdrängens auf – und gelangen vielleicht in einen Bereich, wo Heilung möglich wird. Theo Livesey dehnt und streckt seinen grazilen Körper als Felix, während Frankreichs Schauspiel-Star Adèle Haenel („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) sich als Klara langsam auf dem Boden zusammenkrümmt und im Nebel regelrecht zu versinken scheint.

Als Publikum steigt man mit ein in diesen Albtraum, zu dem sich bald Katia Petrowick – womöglich als Projektion - hinzugesellt. Während die beiden anderen Figuren erstarrt sind, tanzt sie, flankiert von farbigen Lichtstrahlen, zur sanft poppigen Tonspur eines modularen Synthesizers. Das ist der hypnotischste, aber auch faszinierendste Part des mit viel Gespür für beklemmende Atmosphäre gestalteten Abends. In einer Art architektonischer Bühnen-Skulptur verschmelzen Musik (Caterina Barbieri), Sounddesign (Adrien Michel) und Licht (Yves Godin) zu einem Gesamtkunstwerk.

Gisèle Vienne nimmt sich dabei viel Zeit, um mit großer Präzision in die Windungen des Unbewussten vorzudringen. Fast somnambul, aber überzeugend erzählt sie von den Grenzen der Sprache und der Kraft der Gesten – aber auch von der heilsamen Kraft des Gemeinschaft.

„Extra Life“ weitere Vorstellungen: Fr/Sa, jeweils 20.00, Kampnagel, Karten unter kampnagel.de