Hamburg. Heute in der Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten: Gustaf Gründgens’ Mephisto-Show im Jahr 1957.
Mit seinem Porträt auf einem großen Wandgemälde am Bühneneingang des Deutschen Schauspielhauses ist er noch immer präsent. Wie ein unruhiger Geist. Mit seiner Kunst hat er sich sowieso für immer in das größte deutschsprachige Sprechtheater eingeschrieben.
Gustaf Gründgens (1899-1963) konnte die Verse Johann Wolfgang von Goethes auf eine Weise zum Klingen bringen, die wohl niemand im Publikum je vergessen würde.
Der von ihm inszenierte „Faust I“ vom 21. April 1957 hat als „Hamburger Faust“ Theatergeschichte geschrieben. Es gab Ovationen von mehr als halbstündiger Dauer.
„Faust“ am Schauspielhaus Hamburg: Ein Erfolg, der um die Welt ging
„Dank für einen ebenso groß und kühn geplanten wie verwirklichten Abend“ schrieb das Hamburger Abendblatt in seiner Rezension am 23. April 1957 und lobte Gründgens‘ Zugriff, der keine Sensation im Aktualisieren um jeden Preis suche. „Goethes unausschöpfbares Welttheater wird, von vielem Überkommenen entkleidet und ganz aufs Wort inszeniert.“
Für Gustaf Gründgens war die Verkörperung des Mephisto die Rolle seines Lebens, also jenes teuflischen Geistes, der „stets verneint“ im Wettstreit gegen den in seiner dunklen Denker-Stube darbenden, von Will Quadflieg gegebenen Faust, der wissen will, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.
„Faust“ mit Gustaf Gründgens: Die Leute standen nächtelang für Tickets an
Es war für Gründgens bereits die dritte Inszenierung des Weltgedichts – und sie wurde ein Erfolg, der um die Welt ging. Die Karten waren extrem begehrt. Noch Jahre nach der Premiere standen die Menschen teilweise eine ganze Nacht lang für Tickets an.
Der Generalintendant schenkte um sechs Uhr morgens schon mal persönlich im Foyer Kaffee an die Wartenden aus. Die Platzausnutzung lag bei traumhaften 100 Prozent. Das Ensemble reiste 1959 als erstes überhaupt in die Sowjetunion.
Boris Pasternak schrieb daraufhin an Gründgens: „Ich danke Ihnen und in Ihrer Person, der ganzen Truppe für all das Wahre und Große, das Sie alle mich sehen und empfinden ließen.“ 1961 ging es nach New York. Dort saß Arthur Miller im Parkett.
„Faust I“ enthält erstaunlich moderne Elemente wie Rock-n-Roll-Tänzer
Was war das Besondere an dieser Inszenierung? Schon das „Vorspiel auf dem Theater“ war bemerkenswert. Gemeinsam mit Teo Otto, seinem Bühnenbildner, hatte Gustaf Gründgens eine eigenwillige szenische Idee entwickelt. Und so trafen sich der Dichter (Will Quadflieg), der Theaterdirektor (Hermann Schomberg) und die Lustige Person (Gustaf Gründgens), um Rollen im „Faust“-Drama zu übernehmen – das Spiel war somit als behauptetes Spiel entlarvt.
Ein Podest blieb bis auf wenige Ausnahmen beständiges Bühnenelement. Die wechselnden Schauplätze wurden durch hinzugefügte Kulissenteile angedeutet. Die Inszenierung enthielt erstaunlich moderne Elemente: Rock-n-Roll-Tänzer, ein Astronaut in der nordischen Walpurgisnacht, das Aufblitzen eines Atompilzes.
Der Gründgens-„Faust I“ wurde zur Allegorie auf die Gefahren des Atomzeitalters. Die mittelalterliche Magie und Alchimie ersetzte Gründgens durch moderne Naturwissenschaften. Die Illusion des Spiels hielt er jedoch allezeit aufrecht.
Jahrhundert-Schauspieler Gründgens: Sein Mephisto war eisig und verführerisch
Unvergesslich ist seine spezielle Verkörperung des Mephisto. Er umschlich den skeptischen Faust schlangengleich mit blitzenden Augen und eisiger, gleichwohl verführerischer Rede.
Das Gesicht bleich geschminkt, die Lippen leuchtend rot, die Augenbrauen scharfkantig nach oben gerichtet. Das Haar war von einer schwarzen Haube bedeckt. Die Maske hatte er bereits zuvor in Berlin entwickelt. Er war ein perfekter lustiger, böser, ironischer und hintergründiger Verführer. Gründgens war als Mephisto zugleich schillernde lustige Person und böser gefallener Engel.
Er wird für immer der Mephisto bleiben. Mehr als 350-mal hat er die Rolle auf der Bühne ausgefüllt, jedes Mal versucht, Will Quadflieg als Sinnsucher Faust in einem bitteren Machtkampf und einer Wette auf Leben und Tod ins Verderben zu stürzen.
Listig hat er Erlösung versprochen und alles daran gesetzt, den Lebensmüden soweit zu bringen, dass er zum Augenblick sagt: „Verweile doch! Du bist so schön!“. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Verjüngt schwängert der Wissenschaftler das Gretchen, das daraufhin zur Kindsmörderin wird.
Will Quadflieg und Gustaf Gründgens waren ein Gegensatzschauspielpaar
Die Zuschauer sahen ein großes Duell zweier Kräfte – und Theaterkünstler. Und natürlich lebte die Inszenierung auch von dem Gegensatzschauspielpaar Will Quadflieg und Gustaf Gründgens.
In Letzterem entdeckten manche einen der ganz großen Charakterdarsteller des 20. Jahrhunderts, für andere wirkte sein Traditionsbewusstsein etwas überholt. Eher der Sprache als dem Spiel zugetan, konzentrierte sich Quadflieg ganz auf die Schönheit der Dichter-Worte.
Auch alle Nebenrollen waren top besetzt: Antje Weisgerber glänzte als Gretchen, Elisabeth Flickenschildt als Marthe Schwerdtlein, Eduard Marks trat als Wagner, Uwe Friedrichsen als Schüler und Heinz Reincke als Frosch auf. Ein Jahr später würde Gründgens, am Ostersonntag 1958, der Tragödie zweiten Teil folgen lassen.
Gustaf Gründgens hatte mit der Spielzeit 1955/56 die Generalintendanz des Deutschen Schauspielhauses Hamburg übernommen. Zuvor war er Generalintendant der Städtischen Bühnen Düsseldorf. Gründgens war jedoch der Meinung, er müsse von Zeit zu Zeit das Milieu wechseln und sich vor neue Probleme gestellt sehen, wenn er für die Aufgabe als Intendant frisch bleiben wolle.
Schon vor Hamburg hatte er den Mephisto mehr als 600-mal gespielt. „Ich vermag nicht einzusehen, warum unser Beruf der einzige sein soll, in dem Können leicht verdächtig ist. (…) Ich würde wünschen, dass die drei Stunden, in denen wir abends unseren Beruf ausüben, festliche Stunden sind, besondere Stunden für jeden von uns“, so Gründgens in einer Rede vor Mitgliedern des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg am 1. August 1955. Bis zuletzt sollte dies seine Maxime bleiben.
Das Schauspielhaus an der Kirchenallee hatte in Gründgens einen konservativen Intendanten gefunden
Seinem bevorzugten Prinzip der „Werktreue“ huldigend, brachte Gründgens das Theater an der Kirchenallee zu einer neuen Blüte. Er suchte eine künstlerische Vollendung im repräsentativen Klassizismus, der den bürgerlichen Normen Ordnung, Pflicht und Klarheit folgte.
Ihm ging es um eine Klarheit der Sprache und eine Klarheit der Gedanken. Sein Credo lautete: „Der Zuschauer soll verstehen, was der Schauspieler sagt. Der Schauspieler soll verstehen, was der Dichter sagt. Und der Dichter soll verstehen, was er selber sagt.“
Damit prägte er das Profil des Hauses bis weit in die Jahrzehnte nach seinem überraschenden Rücktritt zum Ende der Spielzeit 1962/63. Da hatte er sich vorgenommen, „vor Toresschluss noch rasch zu lernen, wie man lebt“.
Doch dafür blieb dem arbeitswütigen Theater-Star, der jahrelang unter schwerer, mit starken Medikamenten bekämpfter Schlaflosigkeit litt, nur wenig Zeit. Auf einer anschließenden Weltreise sollte ihn am 7. Oktober 1963 im philippinischen Manila der Tod ereilen. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof fand er neben anderen Theatergrößen wie Ida Ehre (1900-1989) seine letzte Ruhe.
Seither haben sich alle Nachfolger auf die ein oder andere Weise an dem Erbe und dem langen Gründgens-Schatten abgearbeitet. Das gilt natürlich erst recht für die folgenden Faust-Produktionen.
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Der „Faust I“ sollte ganze 30 Jahre aus dem Spielplan des Schauspielhauses verbannt bleiben, bis Christoph Marthaler 1993 mit einer auf seine Weise radikalen Inszenierung reüssierte: „Goethes Faust. Wurzel aus 1 + 2“, in der unter anderem Josef Bierbichler und Ulrich Tukur glänzten.
Dem Regisseur Jan Bosse gelang 2004 mit Edgar Selge als Faust und Joachim Meyerhoff als Mephisto ein kluges, ernsthaftes Experiment und ein großer Erfolg.
Klaus Mann beschrieb Gründgens als gewissenlosen Opportunisten
Gründgens wurde mit seinem „Faust I“ und seiner Mephisto-Darstellung unsterblich, obwohl seine Karriere in der Zeit der NS-Herrschaft bis heute irritiert. Der NS-Mann Hermann Göring sah ihn 1932/33 bereits als Mephisto auf der Bühne des Staatstheaters am Gendarmenmarkt in Berlin. Und hielt fortan seine einflussreiche Hand über ihn und sein Wirken.
Klaus Mann beschrieb Gründgens 1936 in seinem Schlüsselroman „Mephisto“ als gewissenlosen Opportunisten. Heute herrscht unter den Biografen weitgehend Einigkeit darüber, dass Gründgens wohl kein besonders politischer Mensch war.
Die legendäre „Faust I“-Inszenierung wurde auch in einem eigenwilligen Filmprojekt festgehalten. Die Verfilmung wirkt weniger als eigenständige Kunstform, vielmehr vergrößert sie den Bühneneindruck. Und auch das Ensemble spricht, als gelte es, den gigantischen Saal auszufüllen und nicht nur die Kamera zu überzeugen.
Gründgens hatte zunächst Zweifel, er glaubte nicht an eine Übertragbarkeit der Bühnenkunst auf den Bildschirm, stimmte dann aber doch dem Experiment zu. Der Film sollte nach seinem Bestreben die Mitte finden zwischen gefilmtem Theater und reinem Film.
Im Rückblick ist es ein wahrer Glücksfall, dass es ihn gibt. Schließlich ist damit eine absolute Sternstunde der Theaterkunst, die ja per se flüchtig ist und immer nur aus ihrer Zeit heraus existiert, für die Ewigkeit festgehalten.