Die Bayreuther Festspiele wagten zum Auftakt ein Technik-Experiment und hatten nicht durchgängig Glück damit. Die Aufführung im Video.
- Die Sänger Andreas Schager, Elīna Garanča und Georg Zeppenfeld glänzten
- „Parsifal“-Regisseur Jay Scheib entwarf etwa 400 computergenerierte Special Effects
- Herausragendster Heilsbringer dieser Produktion ist der Dirigent
Bayreuth. Starke Hornhautverkrümmung und Richard Wagner? Ganz schlechte Kombination. Das war, zumindest in diesem Jahr, das eindeutig schwierigere Problem vor dem ersten Ton aus dem mythischen Orchestergraben, der Musik so klingen lässt wie kein anderer. Kniffliger als die ewige Frage des Arrangierens der Rückenwirbel mit den Holzsitzen im denkmalgeschützten Bayreuther Festspielhaus oder das Staunen darüber, wie viele und wer kurz vor knapp noch auf die Besetzungslisten eingewechselt wird. Und ob trotzdem noch ein künstlerischer Segen darauf liegen könnte. Mehr dazu weiter unten.
Dieses Jahr frisch im Inszenierungs-Aufgebot der Hausherrin Katharina Wagner: der „Parsifal“, spätes Bühnenweihfestspiel ihres Urgroßvaters und Pathos-Langstrecke mit Erlösungskomplex, eher nichts für untrainierte Neulinge mit Sitzfleischdefiziten. Es passiert, außer im Text und in der Musik, konkret nur wenig, das aber gefühlt stundenlang. Für manche gibt es auf der Welt nichts Seligmachenderes als genau diese Überforderung.
Bayreuther Festspiele: Alles so schön 3D hier beim „Parsifal“
Die Hauptrollen auf der Bühne sangen, nur knapp drei Wochen vor der Premiere als rollensicherer Einspringer und Stamm-Star nachnominiert, der Teflon-Tenor Andreas Schager, den offenbar keine noch so große Helden-Partie kleinkriegen kann; als Kundry war Elīna Garanča für ihr Bayreuth-Debüt nachgerückt; in einer tragenden Nebenrolle als Gurnemanz glänzte Georg Zeppenfeld, der auf Wagner-Bestleistung abonniert ist. Prominenter, souveräner geht es gerade kaum.
Die eigentliche Hauptrolle allerdings spielten 330 AR-Brillen, in die nur etwa einem Sechstel des Publikums (mehr hatten die Festspiel-Planer von ihren Haushaltskassenwärtern nicht genehmigt bekommen) etwa 400 computergenerierte Special Effects, maßberechnet für den jeweiligen Sitz im hinteren Parkett, auf die Augen geliefert wurden.
Augmented Reality, also: dreidimensionale Extras, die sich als optische Leitmotiv-Schicht ergänzend oder kommentierend über das real passierende Bühnenbild legen. Regisseur Jay Scheib, der als Professor für Musik und Theaterkunst am MIT (Massachusetts Institute of Technology) nun wirklich vom Fach ist, hatte 2021 als Pausenfüller ein Computerspielchen für Bayreuth entworfen, bei dem Interessierte in den Foyers wie Siegfried (andere Wagner-Oper, ähnliches Ego wie der Helden-Kollege Parsifal) mit einem Drachen kämpfen konnten. Dieses Projekt jedoch spielt in einer ganz anderen Liga.
Rund 1000 Euro Stückpreis pro schnittig geformte Brille, an den Sitz verkabelt, empfindliche Spielzeuge, die außerdem auch noch unschön schwer sind auf der Nase. Klappt das, klappt das nicht? Je nach Sehstärke unterschieden sich die Anpassungsschwierigkeiten stark: Bis zur Probe-Durchsicht vor Ort konnten schon mal mehrere Gespräche mit Augenärztin und Optikerin zusammenkommen, Kontaktlinsen-Bestellungen als Brillenersatz, mit Fragen und Rückfragen, weiteren Rückfragen und noch mehr Rückfragen. 130-Prozent-Garantien fürs Gelingen des Experiments bekam man lieber nicht.
Bayreuther Festspiele: Götterdämmerungs-Geraune, wieder mal
Ein Experiment im viel größeren, grundsätzlichen Ausmaßen war diese wegweisende Aktion für die Festspiele selbst, die damit Vorreiter für ausdruckserweiternde Musiktheater-Neuerungen sein könnten, die alle sehr gern im Spielplan hätten, weil alte Gewissheiten weggebrochen sind.
Ausgerechnet dort, wo traditionsverstaubte Hardcore-Wagnerianer sich liebend gern schon über kleinere Dosen von Regietheater-Ideen aufregen mögen, obwohl doch von Wagner die Forderung „Schafft Neues!“ ins Stammbuch verewigt wurde, steht gerade einiges, wieder mal, auf dem Prüfstand: Früher, als alles bekanntlich besser war und erst recht auf dem Grünen Hügel, wurde sich gern beklagt, dass man jahrelang um Karten-Chancen betteln musste.
Jetzt aber gibt es „noch“ und „tatsächlich“ kurzfristig Karten – doch auch das wird hier und da als existenzbedrohende Schwäche bemängelt. Das Management hat im Vorfeld wichtige Fristen beim Angebot verstolpert, so dass die Nachfrage der Stammkundschaft aus dem Takt geriet und schon deswegen viele Karten unverkauft blieben. Und die Tickets, ohnehin keine Schnäppchen, sind auch noch rund sechs Prozent teurer als im Vorjahr. Karten für den „Ring“, der im letzten Sommer von der Kritik als schlimm verunglückt abgebürstet wurde, sind sogar nur im Viererpack zu haben. Also: Götterdämmerungs-Geraune, wieder mal.
Und in dieser angespannten Atmosphäre schafft es dieser „Parsifal“, wie Schrödingers Katze aus einem anderen philosophischen Gedankenexperiment zwei Dinge gleichzeitig zu sein: ein Erfolg und auch sein Gegenteil. Scheibs Inszenierung ist in weiten Teilen gutgemeint missglückt, weil sie schon viel wagt, zu wenig Neues behauptet – abgesehen davon, dass am Ende der Gral nicht enthüllt, sondern zerstört wird – und noch nicht genug Eigenes kann. Im ersten Aufzug setzt ab dem ersten AR-Einsatz ein Dauerstaunen ein, dass der Bühne als Erzählebene zunächst nicht guttut.
Bayreuther Festspiele: Das Regie-Konzept schwächelt an vielen entscheidenden Stellen
Wie 1977, als im ersten „Star Wars“-Film Textzeilen durchs All schwebten und danach das Kino auf ewig ein anderes war, wird das Brillennutzer-Hirn mit irren Bonus-Eindrücken geflutet. Wow, ein dreidimensionales Wurzelgeflecht, und ganz hinten rechts sitzt darin eine Taube, obwohl die doch erst viel später dran ist! Warum? Egal, weil: wow, ein Fliegenschwarm, und eine fliegt einem direkt ins Gesicht! Wieso, egal, weil: erstmal wow!
Die realen Sängerinnen und Sänger hinter dieser Meta-Ebene können sich unterdessen noch so viel Mühe geben, sie werden in dieser Alles-so-schön-3D-hier-Phase zu Klangtapeten-Statisterie heruntergerechnet, weil man sie zwar mithört, aber nicht angemessen als Bedeutungsvermittelnde beachtet. Scheib hat Glück und Pech zugleich, der erste Regisseur zu sein, der sich so auf diese verminte Spielwiese vorwagt. Für diejenigen ohne AR-Brille vergrößerte er das szenische Wenigtun durch den Einsatz großformatiger Videos.
Bayreuther Festspiele: Parsifal rempelt seinen Gegenspieler einfach um
Hin und wieder stellt Scheib das singende Personal in gediegenen „park and bark“-Positionen auf der Bühne ab, weil davor ja alles in virtueller Bewegung ist, oder schweift ab in computergenerierten Bilder-Klimbim. Was er nicht so stichwortpünktlich illustriert wie das Erscheinen des Grals (drehende Schale) oder des heiligen Speers (fliegender Speer), wird mit 3D-Bilderrätseln beladen, die nun – anders als im Vor-AR-Regie-Musiktheater – nicht mehr irgendwo auf der Bühne passieren oder stehen und irritieren, sondern davor umherfliegen und Aufmerksamkeit anziehen wie der Ring (andere Wagner-Opern) seine Bewunderer.
Warum also nur einen riesigen AR-Schwan, von Parsifals Pfeil getroffen und sprudelnd blutend, wenn man auch vier davon loslassen kann? Doch gerade in den Szenen, in denen Wagners bühnentechnische Mittel noch längst nicht ausreichten, den großen Verwandlungsszenen zunächst, später beim Karfreitagszauber und ganz besonders in dem Moment, in dem ein auf Parsifal geworfener Speer in der Luft stehenzubleiben hat – da schwächelt Scheibs Konzept: Ja, ein Speer schwebt wohlfeil, doch auf der Bühne rempelt Parsifal seinen Gegenspieler einfach um und schnappt sich den Speer händisch.
Kann man so machen, aber dann sieht es, im eigentlich passendsten Moment, halt wie gute alte Inszenierungs-Notwehr aus. Was beispielsweise Verweise auf Kobalt, auf Autobatterien und den Umgang mit Energie an sich bedeuten, könnte die Dramaturgie-Abteilung sicher weit ausholend beantworten. Die Inszenierung kann oder will es nicht. Wer knutscht da ausgiebig mit wem im Video zu Beginn des Dramas, und: warum? Man weiß es nicht genau.
Bayreuther Festspiele: Größter Heilsbringer war Dirigent Pablo Heras-Casado
Klingsors Zaubergarten im zweiten Aufzug wird anfangs mit schwebenden Fleurop-Gebinden überschüttet, und aus diesem Bilder-Rahmen müssen sich Schager und Garanča erst singend befreien, um groß und großartig ihre Figuren einander entdecken zu lassen. Dabei blieb Garanča auf interessanter Distanz zu der gängigeren Perspektive, Kundry bei jeder Gelegenheit als Borderline-Charakter zu überzeichnen. Noch stärkere, noch eindringlichere Momente hatte Schager im dritten Aufzug, in dem er mit betörend feinem Ausdruck gestaltete.
Herausragendster Heilsbringer dieser Produktion und solide geschmeidiges Fundament der Ensemble-Leistung war aber das geradezu sensationell empathische Dirigat von Pablo Heras-Casado. Debüt in Bayreuths gefürchteter Akustik, mit ausgerechnet dieser Oper, die für genau dort entworfen wurde, und dabei – ohne Taktstock! – so detailscharf, abstufungsgenau und klangfarbenschön mit dem Orchesterapparat zu agieren und zu reagieren, das kann nicht nur dort nicht jeder.
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Dass Heras-Casado, wie vor einigen Jahren Thomas Hengelbrock für einen „Tannhäuser“, als historisch klug informierter Kopf auf den Hügel geholt wurde, hörte man dem musikalischen Ergebnis ab dem feinfühlig durchglühten Vorspiel an.
Zum Raum werde hier die Zeit, lässt Wagner an zentraler Stelle im „Parsifal“ verkünden. Heras-Casado ist nicht nur das, sondern auch das erstaunliche Kunststück gelungen, seinen Tempi, die an sich zügig waren, alle Zeit der Welt zum Ausbreiten und Aufblühen zu lassen.
Der immense Beifall für Ensemble, Chor, Orchester und Dirigent war also voll und ganz gerechtfertigt; die Buh-Rufe für Scheibs Bebilderungs-Experiment hielten sich im ortstypisch erwartbaren Rahmen. Bayreuths Schlingensief-„Hasifal“ von 2004 ist längst legendär, diese „Parsifal“-Inszenierung kann nun als szenischer Update-Versuch mit Ambitionen in die Festspiel-Annalen eingehen.
Die Videos stammen vom Bayerischen Rundfunk der Redaktion BR-KLASSIK. Weitere Konzerte von BR-KLASSIK können Sie in der ARD Mediathek unter BR-KLASSIK Concert einsehen.