Berlin. Ausnahme-Regisseur Christopher Nolan hat einen grandiosen Film über den zerrissenen Wissenschaftler gedreht: „Oppenheimer“.

Die Bombe platzt gleich zu Beginn. Und dann immer wieder. Aber nur im Kopf ihres Erfinders. Robert Oppenheimer ist der Vater der Atombombe. Er hat die Superwaffe im Wettlauf mit den Deutschen entwickelt. Aber nun, nach dem Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki, wird er von Schuldgefühlen geplagt. Weil er verantwortlicht ist für den Tod von zahllosen Unschuldigen. Davon handelt Christopher Nolans episch-grandioser Kinofilm „Oppenheimer“, der am 22. Juli in die Kinos kommt.

Blockbuster-Kino nicht nur zur Unterhaltung: Hier wird zum Mitdenken angeregt

Es ist ein Film, der sein Publikum fordert. Und auch erst mal überfordert. Wer kennt sich schon in Physik aus? Noch dazu in Quantenmechanik? So viel Fachchinesisch. So viele Fakten. Und Figuren. Historische – wie Robert Oppenheimer, Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Präsident Truman. Und lauter Stars wie Robert Downey Jr., Emily Blunt, Matt Damon,Kenneth Branagh und Matthias Schweighöfer, selbst in kleinen Rollen, die manchmal erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind.

Dazu mehrere Zeitebenen, bei denen man sich erst mal nicht zurechtfindet. Gleich zwei Ausschüsse mit peinlichen Verhören. Und zwei Liebesgeschichten. Das Ganze noch in unterschiedlichen Bildstilen festgehalten, mal schwarzweiß, mal in den verblassten Agfacolor-Farben der 40er-, 50er-Jahre. Und nicht etwa chronologisch erzählt, sondern wild durcheinandermontiert. Ja, da schwindelt einem schon mal der Kopf.

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Aber Christopher Nolan ist eben der große Intellektuelle des Blockbuster-Kinos, der nie Filme von der Stange dreht, sondern immer überwältigende, verrätselte Meisterwerke schafft. Und auch wenn man manche nach dem zweiten Schauen noch nicht ganz verstanden hat: Nolan fordert seine Zuschauer zu etwas auf, was im Spektakelkino sonst eigentlich unüblich, ja geradezu unerhört ist: zum Mitdenken.

Ob das filmische Labyrinthe sind wie sein früher Erfolg „Memento“ oder der Science-Fiction-Film „Inception“, in der man keinem Bild trauen darf. Oder ein Agentenfilm wie „Tenet“, wo alles plötzlich rückwärts läuft. Oder auch Comic-Ware wie „Batman“, die in geistige Höhen und dramatische Tiefen versetzt wurden, wie es das nie zuvor und auch seither nicht mehr gegeben hat.

„Oppenheimer“ - Ein Kriegsfilm der anderen Art, ohne dass je ein Kriegsbild gezeigt wird

„Oppenheimer“ ist nun Nolans zweiter Kriegsfilm. In „Dunkirk“ verarbeitete der Brite das große Trauma seines Volks in Dünkirchen 1940, das dann doch zu einer beispiellosen Rettungsaktion und einem Triumph für die Nation wurde. Nolan rekonstruierte das nicht nur mit akribischem Aufwand, er warf die Zuschauer mitten hinein in das Geschehen, machte den Krieg zu einem immersiven Erlebnis, aus dem es kein Entrinnen gab. Und bombardierte das Publikum nicht nur mit schockierenden Bildern, sondern dröhnte es auch zu mit einem wummernden Klangteppich. Da verging einem buchstäblich Hören und Sehen.

Ganz anders nun „Oppenheimer“, der auch vom Krieg erzählt. Aber nicht ein einziges Kriegsbild zeigt. Sondern den Krieg dahinter erzählt. Das Wettrennen um die Wunderbombe, bei dem Albert Einstein (Tom Conti) befürchtet, dass die Nazis es gewinnen könnten. Deshalb wird Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) damit betraut, in der Wüste von Los Alamos die erste Atombombe zu entwickeln. Trotz aller Vorbehalte, die manche gegen ihn hegen: dass er ein Dilettant sei, ein Womanizer, und dann sind da noch gewisse kommunistischen Neigungen.

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Doppelt abgesichert, durch Glas und Schutzbrille, verfolgt der Wissenschaftler Zündung der ersten Bombe.
Doppelt abgesichert, durch Glas und Schutzbrille, verfolgt der Wissenschaftler Zündung der ersten Bombe. © Universal Pictures

Die ersten zwei dieser drei vollgestopften Kino-Stunden sind ein Wettlauf gegen die Zeit. Aber als die Nazis schon kapitulieren, geht der Krieg im Pazifik weiter. Und Oppenheimer ist überzeugt, dass diese eine Bombe nicht nur diesen Krieg entscheiden, sondern alle künftigen Kriege verhindern wird. Aber da denkt die Regierung um den neuen Präsidenten Truman (Gary Oldman) schon viel weiter. Der neue Feind sind die Sowjets, die bereits an einer eigenen Atombombe basteln, die womöglich in Los Alamos spioniert haben.

Den Abwurf der Atombombe sieht man nie - die Schuldgefühle aber schon

Und so soll eine neue, eine Wasserstoffbombe entwickelt werden. Oppenheimer hat die Büchse der Pandora geöffnet. Und als er nicht mehr mitmachen will, wird ihm die Leitung aus der Hand genommen („Es geht hier um mehr als Sie“). Und sein Ruf unmöglich gemacht. Eben noch als „Vater der Atombombe“ gefeiert, wird er zur Persona non grata. Da beginnt noch ein ganz anderer Krieg: der gegen seine Person.

Den Abwurf der Bombe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945, sie bleiben dem Kinozuschauer glücklicherweise erspart. Da zeigt Nolan Fingerspitzengefühl. Man hört die Nachricht nur im Radio. Aber was die Folgen mit dem Wissenschaftler machen, setzt der Regisseur in eindrückliche Bilder.

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Eben noch als „Vater der Atombombe“ gefeiert, gerät Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) plötzlich in Verdacht, für die Russen spioniert zu haben.
Eben noch als „Vater der Atombombe“ gefeiert, gerät Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) plötzlich in Verdacht, für die Russen spioniert zu haben. © Universal Pictures

Oppenheimer wird gefeiert in einem ganzen Saal voller begeisterter Amerikaner, die applaudieren, mit den Füßen trampeln und mit Stars-and-Stripes-Wimpeln wedeln. Aber plötzlich ist der Ton weg, sieht Oppenheimer grelle Blitze und die Leute vor sich verkohlen und verglühen.

Noch nie hat man im Kino mit genuin filmischen Mitteln ein Genie so ins Bild gesetzt

Auch wenn er später dann doch Bilder des Abwurfs in einer Kino-Wochenschau sieht, ist die Kamera nur auf ihn gerichtet. Und in Cillian Murphys ausdrucksvollem Gesicht spiegelt sich all das Grauen, ohne dass es uns zugemutet wird.

Es sind immer wieder solche visuellen Momente, die Nolans Oeuvre so stark und besonders machen und die auch diesen Film bestimmen. Gleich anfangs etwa sieht man wiederholt Bilder aus dem All, von Feuersbrünsten, sich teilenden Atomen. Geistesblitze des Wissenschaftlers. Noch nie hat man im Kino ein Genie mit solch visuellen, genuin filmischen Mitteln gezeigt. Einer, der in einer ganz eigenen Welt zu leben scheint.

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Geballte Star-Power: Matt Damon, Emily Blunt, Cillian Murphy und Florence Pugh, bei der London-Premiere des Fijms.
Geballte Star-Power: Matt Damon, Emily Blunt, Cillian Murphy und Florence Pugh, bei der London-Premiere des Fijms. © dpa | Scott Garfitt

Aber dann wird man jäh aus diesen Geisteshöhen auf den harten Boden der Realität zurückgeworfen. Mit dem ehrenrührigen Untersuchungsausschuss unter Ausschluss der Öffentlichkeit, durch den er 1954 von weiteren geheimen Staatsprojekten abgezogen wird. Und dann mit einem zweiten, öffentlichen Ausschuss, mit dem er 1963 rehabilitiert wird.

Das sind die verschiedenen Zeitebenen, die das Geschehen, die Schuld und Verantwortung immer wieder polyperspektivisch kommentieren. Und die vielen Details, die den Zuschauer anfangs schier erschlagen, sind wie ein Puzzle, aus dem man sich das Bild selbst zusammensetzen muss. Kein bloßes Bilderspektakel. Eine Aufforderung zur aktiven Teilnahme. Und ein spektakulärer Film über einen ambivalenten, zerrissenen Charakter, grandios verkörpert von Cillian Murphy, für den das die Rolle seines Lebens sein dürfte.

Am Ende, das ist kein Geheimnis, ist Oppenheimers Ruf wiederhergestellt. Aber ein Happy End ist das nicht. Da hat er nur noch vier Jahre zu leben. Und sind die äußeren Dämonen auch besiegt, die inneren lassen ihn wohl nicht mehr los.

Drama, USA 2023, 180 min., von Christopher Nolan, mit Cillian Murphy, Emily Blunt, Robert Downey Jr., Matt Damon, Florence Pugh, Kenneth Branagh, Gary Oldman, Matthias Schweighöfer, Casey Affleck, Dane DeHaan