Hamburg. Mit Knausgårds Bestseller „Der Morgenstern“ serviert Viktor Bodo die volle Dröhnung zwischen Gruselschocker und Seifenoper.
Blut, Schweiß und Tränen, schon klar. Am Theater so weit erwartbar. Hier dann allerdings ergänzt um: wabblig aufplatzendes Bauchfett und freigelegte Muskeln und Sehnen und den ganzen Gedärme-Schmodder. In Großaufnahme! Während der Pathologe robust hinlangt: „Säge! Spreizklemme!“ Deren Verwendung ist dann nicht nur äußerst konkret anzuhören – könnte das Brustbein des Leichnams sein, das hier fachgerecht zerlegt wird –, sondern auf dem Bildschirm oberhalb der großen Bühne auch in allerfeinster Detailgenauigkeit zu beobachten. Für die, die sich trauen hinzuschauen.
Man braucht einen starken Magen in der letzten großen Saisonpremiere am Deutschen Schauspielhaus. Zumal in dieser Szene nicht nur das Publikum aufstöhnt, sondern irgendwann auch der geöffnete Körper. Das verblüfft dann auch das OP-Team: Grundgütiger, der ist gar nicht tot?!
Theater Hamburg: Premiere am Schauspielhaus verlangt Magen viel ab
Die Grenzen sind da fließend in Karl-Ove Knausgårds Fast-900-Seiten-Wälzer „Der Morgenstern“. Zwischen Leben und Tod sowieso, zwischen Einbildung und Wahrheit, philosophischem Zugriff und süffig-konkreter Handlung. Aber in dieser rasanten, vielschichtigen Bühnenversion auch zwischen Gruselschocker und Komödie, zwischen Fantasydrama und Seifenoper, Theater- und Kino-Ästhetik.
Auch an die Mystery-Serie „Twin Peaks“ erinnert die bild- und anspielungsreiche, üppig besetzte Dramatisierung des ungarischen Regisseurs Viktor Bodo immer wieder. Die Undurchsichtigkeit, der feine Horror, die Obskuritäten, die mal subversivere, mal knalligere Kleinstadt-Komik.
Die schlimmsten Splatterszenen passieren in den Köpfen der Zuschauer
Am Schauspielhaus arbeitet sich Bodo (dessen Kafka-Erfahrung sich als nützlich erweist) in der klugen Dialogfassung von Armin Kerber an der Realität als Variable ab, und der aufgeschnittene Untote ist in diesem Reigen norwegischer Provinzbiografien keineswegs die größte Schaurigkeit. Die schlimmeren Splatterszenen passieren in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer, die den Figuren eigentlich durchgehend in die Untiefen ihres Daseins folgen. Insbesondere jenen, die ihr Inneres nur metaphorisch nach außen stülpen.
Da ist die Pastorin am Rande des Nervenzusammenbruchs (aufwühlend und feinnervig: Julia Wieninger), die das Heimkommen verzögert und lieber in einem Hotel übernachtet. Da ist der schmierig-misogyne Lokalreporter (den Samuel Weiß brillant und unter Einbeziehung aller nur denkbaren Klischees auskostet), der sich als „Nestor des investigativen Kriminaljournalismus“ versteht, von der Redaktion aber in die Kultur abgeschoben wurde.
Samuel Weiß spielt brillant und unter Einbeziehung aller denkbaren Klischees
Da ist seine Frau, die Krankenschwester, die einen lebensmüden Sohn allein zu Hause lässt und einen Psychiatrie-Patienten im Nebelwald verliert. Stark, wie Ute Hannig an der Klippe totaler Erschöpfung balanciert und später buchstäblich durch die Einzelschicksale irrt, als habe man sie mit Taschenlampe in ein albtraumhaftes Wachsfigurenkabinett gesperrt.
Leben, die sich streifen, ein Abend, der anfasst. Über allem hängt die Hitze und das titelgebende Himmelsphänomen wie eine bedrohliche, düstere Ahnung. Als würde jemand gnadenlos den Schorf von der Wirklichkeit kratzen, als könnte der ganze Rumms jede Sekunde explodieren. Viktor Bodo und seine Videokünstler Bors Ujvari und Oliver Koniecki halten genau drauf, ohne sich (und das ist wirklich eine Leistung) in all den Facetten und Abzweigungen zu verlieren.
Schauspielhaus-Premiere: Publikum sieht das Bühnengeschehen multiperspektivisch
Denn das Publikum sieht das Bühnengeschehen multiperspektivisch: innerhalb und außerhalb der detailreich und verschachtelt von Jane Zandonai auf die Drehbühne gezimmerten Räume. Wer kürzlich bei den Lessingtagen das Gastspiel „Melancholy Rooms“ des ebenfalls ungarischen Regisseurs Jakab Tarnóczi in der Gaußstraße sah, dem kann die Grundkonstruktion vage bekannt vorkommen.
Nur wird die Illusionsmaschinerie am Schauspielhaus noch weiter getrieben, der filmische Realismus wird konsequenter gebrochen, Vereinzelung, gesellschaftliches Scheitern und dysfunktionale Beziehungen werden noch brutaler erzählt, der eigene Wahrnehmungsapparat immer wieder fulminant infrage gestellt. Das ist verstörend, überwältigend, ungemein präzise gearbeitet und tatsächlich immer wieder sehr, sehr lustig.
Theater Hamburg: Man muss diesen Drei-Stunden-Abend mehrfach sehen
Eigentlich muss man den drei Stunden langen, trotzdem kurzweiligen Abend mehrfach sehen. Ständig sind in diesem Splitscreen-Panorama zahlreiche Tabs parallel geöffnet, auf der Bühne, auf den Leinwänden, die die gesamte Schauspielhausbreite rahmen, mal mehr TikTok, mal mehr „Blair Witch Project“, mal Seelenstriptease, mal Apokalypse. Immer volle Dröhnung. Was da andauernd los ist!
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Die beste Strategie: sich dem ganzen Wahnsinn komplett ausliefern. Den Schauder der surrealen Horror-Miniaturen genießen, das Genre-Karussell reiten. Atmosphärisch manipuliert wird man eh, von Klaus von Heydenabers Live-Pianospiel, von Gábor Keresztes’ Sounddesign, von Rebekka Dahnkes tollem Lichtkonzept, vom hervorragenden Ensemble. Am Ende gönnt Viktor Bodo dem beeindruckend großen Team einen Abspann wie im Kino, Doris Day dudelt zum heftigen Schlussapplaus, als sei alles nur ein harmloses Spiel gewesen. „Stars shining bright above you …“
Und Gott ist auch nur ein Hausmeister, der dem Morgenstern quietschend die letzte Glühbirne rausdreht. The End.
„Der Morgenstern“, Deutsches Schauspielhaus, wieder am 20. und 25. Mai sowie am 7. Juni, jew. 19.30 Uhr, Karten unter www.schauspielhaus.de und T. 248713