Hamburg. Die Deichtorhallen widmen der US-Künstlerin Sarah Morris eine beeindruckende Werkschau. Corona veränderte ihr Arbeiten völlig.

Farbfelder in allen Größen und Formen werden von Linien durchzogen, die wie der U-Bahn-Plan einer Metropole wirken. Dann wieder lachen den Besucher Kreise in Knallfarben an, die wie verspielte Ornamente wirken. Die großformatigen Arbeiten der Sarah Morris beeindrucken mit ihrer Farbigkeit, die an die Werbewelten der Pop-Art erinnern und in der Konstruktion mit Tapes und Haushaltslack auf die Tradition der Minimal Art verweisen. Morris erforscht die Psychologie urbaner Umgebungen mit ihren in die Architektur eingeschriebenen Mechanismen von Politik und Macht, aber auch soziale und bürokratische Topologien.

Sarah Morris: Mithilfe der Kunst lässt sich die Welt begreifen

Mit „All Systems Fail“ präsentieren die Deichtorhallen Hamburg mit mehr als 180 Arbeiten – von Gemälden über Filme bis zu Zeichnungen, Filmplakaten und Skulpturen – aus 30 Jahren ihres Schaffens die bislang umfassendste Ausstellung der US-Künstlerin. Vom 4. Mai bis zum 20. August ist die Schau in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.

Sarah Morris, 1967 in Großbritannien geboren, hat schon früh mit dem gearbeitet, was sie in der Realität vorfand. Das kann ein Zeitungsschnipsel mit der Darstellung einer Krankenschwester in dem frühen, noch sehr grafischen „Bully Nurse“ (1997) sein, oder es sind Verbotsschilder, die sogenannten „Sign Paintings“, die vor dem Überschreiten von Grenzen warnen. Sie heißen „Dead End“, „Beware of the Dog“, „No Loitering“ (Kein Herumlungern) oder auch schlicht „666”.

Deichtorhallen: Manches erinnert an Pop-Art-Ikone Andy Warhol

Für Kurator und Deichtorhallen-Intendant Dirk Luckow ist Sarah Morris eher vom düsteren Andy Warhol inspiriert, wenn es um Pop geht. Morris transformiert nicht ihre Seelenbewegungen in Abstraktion, die Bilder und Szenen kommen zu ihr – auf der Straße, in großen Städten wie ihrer langjährigen Heimat New York. Die Beschäftigung mit Semiotik, mit Strukturen des Denkens, und Sprechens, materialisiert sich wiederum in frühen Schriftzügen wie „Liar“ (1995). Gemeint war damit Bill Clinton, der die Öffentlichkeit über seine Affäre mit einer Praktikantin offen belogen hatte.

Gegenüber hängt das Selbstporträt „SRHMRRS2“ (2001). Es ist eher eine Befragung der eigenen Identität, aufgelöst in eine Vielzahl von Farbfeldern, die an die Index Paintings von Gerhard Richter erinnern. Morris‘ Vorgehensweise ist dabei stets dieselbe. Erst grundiert sie die Fläche weiß, dann bringt sie die Tapes an, dann grundiert sie nochmals und erst dann trägt sie die Farben auf.

Sarah Morris geht es nicht um das Spiel mit der Oberfläche

Den größten Raum nimmt der Themenkomplex Urbanität in der Schau ein. Gitter, Raster sind zu sehen, mal zwei-, auch mal dreidimensional. Immer bezeichnen sie ein konkretes Gebäude und damit auch einen Machtzusammenhang. Die Midtown-Serie aus New York zeigt mit „Capitol Hill“ (2001) etwa die ganz geraden Stufen des Kapitols in Washington. Daneben stehen „Watergate Complex“ (2001) oder das „Lever House (with Flag)“. Spiegelungen sind erkennbar, überraschende Winkel, Lichtbrechungen. Manchmal scheint es, als blicke man in das Gerippe eines Gebäudes. Es geht Sarah Morris aber nicht um das Spiel mit der Oberfläche, sondern um die Topografie von Repräsentation.

Nicht nur in ihrer Heimat New York hat sie die städtischen Netzwerke ganz genau durchleuchtet. Auch in Los Angeles hat sie sich mehrere Monate eingemietet. Immer entsteht in der Auseinandersetzung mit einer Metropole auch ein Film. 15 von ihnen sind ebenfalls in der Ausstellung zu sehen.

Eines hat Sarah Morris als Künstlerin gelernt: niemals ein Nein zu akzeptieren

In den Bildern zu Los Angeles wie „Department of Water and Power (Los Angeles)“ (2004) sind Diagramme und Piktogramme erkennbar. Und die wuchernden Linien stehen in einem deutlichen Gegensatz zu den Geraden der Midtown-Serie. Auch in Peking drehte sie einen Film und drang ins Zentrum der Macht vor. Beinahe wäre es dazu nicht gekommen, aber von Jeff Koons, als dessen Assistentin sie in ihren Anfängen arbeitete, hat sie eines gelernt: niemals ein Nein zu akzeptieren. Und damit ist sie weit gekommen in der Kunstwelt.

Die US-amerikanische Künstlerin Sarah Morris steht in der Halle für aktuelle Kunst vor ihren Rasterbildern in ihrer Ausstellung in den Deichtorhallen.
Die US-amerikanische Künstlerin Sarah Morris steht in der Halle für aktuelle Kunst vor ihren Rasterbildern in ihrer Ausstellung in den Deichtorhallen. © dpa | Marcus Brandt

Anlässlich der Elbphilharmonie-Eröffnung filmte Sarah Morris in Hamburg ein Gespräch mit dem Filmemacher Alexander Kluge. In „Finite and infinite Games“ (2017), einer Anspielung auf das gleichnamige Buch von James P. Carse, spricht sie mit Kluge über das Leben als Möglichkeit, über die Sprache, das Denken, die Kreativität. Und daraus entstand 2019 auch eine tolle großformatige Arbeit, in der sie eine Tonspur aufschlüsselt: „War of Roses (Soundgraph)”.

Sarah Morris: Recherchematerial von persönlichen Notizen bis zu Hotelrechnungen

Der Part, der Rio de Janeiro gewidmet ist, zeigt wie etwa „Eletrobras (Rio)“ (2013) organischere Formen. Sie erinnern an die Bauwerke eines Oscar Niemeyer oder auch an den Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx. Wenn man die Windungen der Metropolen verlässt, landet man bei zarten Origami-Gebilden, die Käfer und Engel zeigen.

Morris ist natürlich eine Künstlerin, die sich fremde Dinge aneignet. Das führt auch schon mal zu Konflikten, weshalb sie eine ganze Serie mit „Knoten und Büroklammern“ zu Ordnungssystemen entwickelt hat. Umfangreich ist in Schaukästen auch das Recherchematerial dokumentiert. Es reicht von persönlichen Notizen bis zu Hotelrechnungen.

Die Pandemie bildet eine Zäsur im Werk der Sarah Morris. Das weite Feld ihrer Inspiration, die Großstadt, stand auf einmal still. Morris zog sich aufs Land zurück. Und entdeckte dort neue Mikrokosmen. Die faszinierende Serie „Spiderweb“ entstand. Die Spider Web Paintings wie „Courtship (Spiderweb)“ (2021) erinnern mit ihren scherbenartigen Formen an zerbrochenes Glas.

Dem Künstlichen der Stadt stellt Sarah Morris die Organismen der Natur gegenüber. Und auch hier stieß sie auf Systeme und Netzwerke die sie interessierten. Die Mondzyklen-Serie „Lunar“ (2020) etwa mit den vielfarbigen Monden erzählt im kleinen Format von der Kontinuität des Lebens. Einer der vielen sehenswerten Versuche der Sarah Morris, mithilfe der Kunst die Welt zu begreifen.

„Sarah Morris – All Systems Fail“ 4.5. bis 20.8., Halle für aktuelle Kunst/Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1–2, www.deichtorhallen.de