Hamburg. Anne Lenk feiert mit Tschechows „Drei Schwestern“ eine fulminante Rückkehr ans Thalia – und mutet ihren Figuren einiges zu.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. So viel ist sicher. Als dieser Satz fällt, sind die Träume und Hoffnungen der vier Kinder des verstorbenen Kommandanten einer Militärbrigade längst zerstoben im Bühnennebel. Regisseurin Anne Lenk feiert mit Anton Tschechows „Drei Schwestern“, jenem Repertoire-Klassiker über ein romantisch verwirrtes spätfeudal gelangweiltes Bürgertum, eine fulminante Rückkehr an das Thalia Theater.

Hier zeigte sie frühe Arbeiten, bevor sie ihren Durchbruch am Deutschen Theater Berlin erlebte. Auch dort reüssierte sie mit Klassikerinszenierungen, die irgendwie frisch und anders und dabei sehr genau und erfreulich leichtfüßig wirkten. Und man freut sich jetzt schon, wenn sie ab der Spielzeit 2025/26 als Oberspielleiterin bei der künftigen Thalia-Intendantin Sonja Anders mehr Verantwortung am Alstertor übernimmt.

„Drei Schwestern“: Claude Monet hätte das Bühnenbild nicht schöner zaubern können

Schon im ersten Bild zeigt sich ein starker Formwille. Bühnenbildnerin Judith Oswald hat die gesamte Bühne in einen sehr blauen Seerosenteich getaucht, wie ihn der Impressionist Claude Monet nicht schöner hätte hinzaubern können. Es ist ein fragwürdiges Idyll, das Leben ein trügerisch ruhiges Gewässer. Doch genau aus diesem Stillstand eines Lebens im Wartestand schlagen Anne Lenk und das fantastische Thalia-Ensemble spielerische Funken.

Die seit einem Jahr ihres Oberhauptes beraubte und darüber etwas orientierungslose Familie ist von sehenswerter, künstlicher Aufmachung: Blond perückt und von Sibylle Wallum in gemusterte Kostüme mit gigantischen Schleifen oder Kragen gewandet. Seit elf Jahren haust die Familie, vom Vater dorthin verbracht, in der ungeliebten Provinz. Alles hier signalisiert: ich bin bereit für Glück, Liebe, Erfüllung, sinnstiftendes Leben und die nächste Party.

Aufgestaute Leidenschaften, verhängnisvolle Affären – der Stoff hat es in sich

Das betrifft vor allem die Schwestern, die bei Anne Lenk nicht Olga, Mascha und Irina, sondern Ortrud, Mechthild und Ingrid heißen. Sie wollen nicht notwendig nach Moskau, aber nach Hause, in einen paradiesischen, vielleicht vorkapitalistischen Zustand - wo immer das ist. Aus Rosa Thormeyers gelangweilt die Augen rollender Ingrid sprechen Überdruss und leise Depression, obwohl sie noch in ihren jugendlichen Zwanzigern ist.

Zu ihrem Herz hat sie kaum Zugang, fühlt sich irgendwie zu dem Stabshauptmann Jakobi (Filipp Avdeev), einem irrlichternden Romantiker, hingezogen, willigt dann aber doch in eine Vernunft-Ehe mit dem schwer verliebten Oberleutnant Baron (Björn Meyer) ein. Wie ein Vogel kurz vor dem Abflug hockt sie auf einem der vielen umherstehenden Schemel und Stühle. Oda Thormeyers Ortrud wiederum ertränkt als älteste der Schwestern den Frust ihres Lehrerinnendaseins im Alkohol.

Maike Knirsch, Oda Thormeyer, Rosa Thormeyer Cathrine Seifert (v. l.) und Merlin Sandmeyer (liegend).
Maike Knirsch, Oda Thormeyer, Rosa Thormeyer Cathrine Seifert (v. l.) und Merlin Sandmeyer (liegend). © Krafft Angerer

Die Affäre mit dem verheirateten Major Wirsching, den Hans Löw mit viel feiner Ironie als intervallfastenden Teetrinker gibt, verheißt keinen Ausweg. In ihn ist auch die mittlere Schwester Mechthild verschossen, bei Cathérine Seifert ein Nervenbündel an Temperament und Überheblichkeit. Zu lange schon dämmert sie in unglücklicher Ehe mit dem schwatzhaft in Anglizismen dampfplaudernden Lehrer Kuhlmann, Jirka Zett mit Tolle und Brusthaartoupet, dahin. „Wir alle wissen doch, wie wir sein sollten, aber wir kriegen es einfach nicht hin“, erkennt immerhin Wirsching.

„Drei Schwestern“: Alle Figuren sind bis in die Groteske hinein überzeichnet

Alle Hoffnungen der Schwestern aber ruhen auf Bruder Alfred. Merlin Sandmeyer lehnt meist schlaff am Bühnenrand, manchmal findet er Zerstreuung in der Malerei oder dem Tuba-Spiel. Aus seiner angestrebten Wissenschaftskarriere wird nichts, stattdessen verbraucht er sich in einem langweiligen Verwaltungsjob. Seine letzte Energie zehrt die Ehe mit Maike Knirschs kapriziös einfältiger Naomi auf, die von der Familie wegen ihrer Bodenständigkeit und ihres Machtwillens verachtet wird. Dazwischen sondert Bernd Grawerts Militärarzt Tschaller ein paar Comic-Weisheiten ab. Und Solomia Kushnir schleicht als schwerhörige frühere Kinderfrau Anna umher.

Alle Figuren sind bis in die Groteske hinein überzeichnet. Und bis auf wenige Ausreißer gelingt dem Ensemble die schwierige Balance, seine Figuren nicht zu veralbern und zu verraten. Wer gerade nichts zu schwadronieren oder zu jammern hat, dreht sich um und erstarrt. Dynamik, Rhythmus und Zusammenspiel der Tragikomödie laufen wie eine gut geölte Maschinerie ab.

Und die wirkt überaus zeitgemäß, denn Anne Lenk und Susanne Meister haben hier eine eigene Fassung aus der Stück-Version von Angela Schanelec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva destilliert. Der ganze Tschechow ist da – und wirkt dabei auch mit Anspielungen an Klimawandel und ungeheuerlichen Krieg, an Aktiendepots und gewaltfreie Kommunikation sehr heutig und zeitgemäß.

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Thalia Theater inszeniert Zwischenzustand nach dem Patriarchat

Glaubhaft und stimmig thematisiert die Inszenierung einen Zwischenzustand nach dem Patriarchat, in dem die Schwestern noch nicht recht wissen, wie das gehen soll mit dem Beruf und den Gefühlen. „Ich möchte nicht, dass sich alles ständig ändert. Warum kann es nicht so bleiben, wie es ist?“, ereifert sich Ortrud. Einzig die von allen misstrauisch beäugte Naomi wird hier zur Handelnden, Produktiven. Ihr gehört die Zukunft. Zur Sympathieträgerin wird sie deswegen dennoch nicht. Und manchmal geschieht ja auch etwas. Ein Munitionsdepot explodiert. Es qualmt mächtig, und die beleuchtete Seerosenvisualisierung kehrt sich um zu schmutzig-dunkler Erde.

Am Ende entlädt sich aufgestaute Leidenschaft in einem Duell. Der Krieg ruft die Soldaten aus der Stadt. Mit seiner Spielsucht hat Alfred das Haus mit einer so hohen Hypothek belastet, dass alle Optionen für die Zukunft begraben sind. Ingrid will trotzdem weggehen und als Lehrerin arbeiten. Ihre Figur verkörpert einen zarten Hoffnungsschimmer, vielleicht einen Aufbruch in die Möglichkeit eines selbst bestimmten Lebens. Und in jedem Fall eine höchst vergnügliche Inszenierung.

„Drei Schwestern“ weitere Vorstellungen 28.4., 19 Uhr, 5.5., 20 Uhr, 13.5., 15 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de Wegen eines Krankheitsfalls in „Die Besessenen“ gibt es am Sonnabend (29. April) um 15 Uhr noch eine Zusatzvorstellung der „Drei Schwestern“.