Ein Mann, der 270 Kilo auf die Waage bringt und nur noch eines will: sterben: Die Ausgangslage des überragenden Dramas „The Whale“.

Der erste Blick ist ein entsetzter, der zweite ein angeekelter. Das gilt für den jungen Missionar, der plötzlich in der Tür steht. Es gilt aber auch für den Kinozuschauer. Denn in „The Whale“ wird er mit einem Koloss von einem Mann konfrontiert, der 270 Kilo auf die Waage bringt, kaum aus seinem Sofa kommt, Junkfood in sich schaufelt und sich die fettigen Hände am verschwitzten T-Shirt abwischt.

Dann sieht man auch noch, wie er zu einem Pornofilm onaniert. Bis das Herz kollabiert. Wobei das Handy zu Boden fällt und er nicht mehr daran herankommt. Der Missionar an der Tür ist da die letzte Rettung.

„The Whale“: Brendan Fraser spielt die Rolle seines Lebens

So lernt man ihn kennen, diesen Charlie. Und man kann kaum glauben, dass das Brendan Fraser sein soll, der ihn da spielt, der Star aus Kinohits wie „Die Mumie“. Aber Make-up, Prothesen und ein sogenannter Fatsuit (ein Fettanzug also) machen es möglich. Doch hier simuliert ein Schauspieler mal nicht nur Übergewicht, er bewegt sich auch entsprechend, schleppt und kriecht sich schnaufend voran und kommt nicht ohne Rollator aus.

Erst mal ist man in Schockstarre, wenn man diesen Menschen sieht. Wie der Missionar Thomas (Ty Simpkins). Dann drängt sich Liz (Hong Chau) an ihm vorbei, eine Krankenschwester und Charlies einzige Freundin. Als sie den Blutdruck misst (238:134!), weiß auch der Laie: Der Mann wird nicht mehr lange leben. Will es auch gar nicht. Legt es förmlich darauf an, sich zu Tode zu fressen. Als Thomas da mit seiner New Church kommt, kann Liz nur hämisch lachen. Denn die ist Schuld an Charlies Zustand.

Charlie will Buße tun und sich buchstäblich zu Tode fressen

Der Literaturprofessor hat einst Frau und Tochter verlassen, weil er sich in einen Studenten verliebte: den Bruder von Liz. Aber der war, wie sein Vater, ein Anhänger dieser Kirche, die Homosexualität verteufelt. Konnte mit diesem Widerspruch nicht leben und wählte den Freitod. Charlie kann diesen Verlust nicht verwinden. Und frisst und stopft seither buchstäblich alles in sich hinein. Auch das eine Art Freitod, nur sehr viel langsamer und quälender, eine letzte, selbst auferlegte Marter und Buße.

Von seiner Umwelt hat sich Charlie längst zurückgezogen. Seminare gibt er nur noch online, ohne sein Antlitz zu zeigen. Die vielen Lebensmittel lässt er sich nach Hause liefern und vor der Tür abstellen. Liz ist sein einziger, letzter Kontakt nach außen. Aber dann steht nicht nur der junge Missionar vor der Tür. Sondern bald auch seine Tochter Ellie (Sadie Sink), die dem Vater nie verziehen hat, dass er wegging.

Charlies größter Wunsch: Seine Tochter nach vielen Jahren wiedersehen

Für Ellie tut Charlie alles. Statt in eine Krankenversicherung einzuzahlen, hat er alles für sie gespart. Damit sie es einmal besser hat. Und nun wünscht er sich nur noch eines: sie kennenlernen zu dürfen. Zur Not auch gegen Bezahlung.

Kultregisseur Darren Aronofsky kreiert hier einmal mehr eine ganz eigene Form des Körperkinos: nach „The Wrestler“ über einen aus dem Tritt geratenen Kampfsportler und „The Black Swan“ über eine am Hochleistungsdruck zerbrechende Primaballerina. „The Whale“ ist ein Kammerspiel im wahrsten Sinn des Wortes: Der Film verleugnet nie, dass die Vorlage vom Theater kommt; die Kamera bleibt immer in der dunklen Wohnung, und hier fast nur im Wohnzimmer. Und die Kamera zwängt Charlie noch zusätzlich ins alte, enge 4:3-Bildformat ein.

Am Ende werden die Gesetze der Schwerkraft ausgehebelt

Der Film ist, wie das Stück, eine einzige Bühne für seine Schauspieler. Und allen voran für Brendan Fraser, der hier nach langen Jahren abseits des Rampenlichts nicht nur ein großes Comeback feiert, sondern wohl die Rolle seines Lebens spielt. Und dafür zu Recht den Oscar gewann.

Denn ihm und seinem Regisseur gelingt, dass man doch bald mit Charlie mitfühlt und mitleidet und ihn schließlich ins Herz schließt. Bis zum bitteren Ende – wo dann sogar die Gesetze der Schwerkraft ausgehebelt werden.

„The Whale“ 117 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Abaton, Holi, Koralle, Passage, Savoy, Studio, Zeise