Hamburg. Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ ist erschienen. Der Autor sagt, er handele nicht von Springer. Tut er aber doch.
In diesem Roman, er trägt den Titel „Noch wach?“ und ist jetzt nach langem Brimborium erschienen, hat der namenlos bleibende Erzähler, altersmäßig zwischen 40 und 50, von Beruf Autor und erfolglos an einem Liebesroman schreibend, einen Feind. Den Chefredakteur eines Fernsehsenders, der mit Populismus, reißerischem Journalismus und verletzender People-Berichterstattung Kohle scheffelt.
Dieser Chefredakteur ist, sagt der Erzähler, ein schlechter Mensch. Einer, der nervt mit seinem politischen Agendasetting und seinem Geplärre: „Ruhig, Brauner. Endlich passte diese eigentlich Pferden zugedachte Wendung mal, denn dieser Typ hatte sich politisch doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional dazu immer fetter geworden, und parallel zu seinem Haupthaar fielen auch seine Sicherungen immer schneller und großflächiger aus, er war so eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi geworden, der sich, ja UNS dauernd bedroht sah, was ihn zu allerlei Wutgeschäume animierte, und man hätte das einfach als kurios, sogar als recht amüsant abtun können, wenn er einfach nur ein weiterer urdeutscher Hausmeister gewesen wäre, aber er war nun mal Chefredakteur eines recht erfolgreichen Fernsehsenders, und offenbar mochten sich nicht wenige Menschen versammeln unter seinem WIR-Gebrülle, deshalb empfand man ihn als nicht gar so harmlos.“
Schlüsselroman „Noch wach?“: Womöglich ist das Axel Springer
Und der Chefredakeur ist einer, der skrupellos das Berufliche mit dem Privaten vermischt, wie der Erzähler bald feststellt. Er lernt Frauen kennen, in Berlin und in Los Angeles, die unter dem Chefredakteur arbeiten. Und liegen. Mit Ekel stellt er fest, wie der Chefredakteur seine Machtposition ausnutzt, um sexuelle Befriedigung zu finden.
Die Frauen, eine heißt Basketballs, es ist ein Spitzname, wie man ihn nur in Amerika haben kann, die andere Sophia – die Frauen machen, teils aus Naivität, teils aus anfänglicher Lust am Abenteuer, teils aus Jobangst bei den Eskapaden mit. Aber die Machtspiele des Chefs werden unschön, sein selbstherrliches Gebaren ist anstrengend, unmoralisch sowieso.
Benjamin von Stuckrad-Barres Roman über #Metoo und Machtmissbrauch
Was tun? Der Erzähler hat einen Freund, der immer, fast bis zum Schluss, nur so auftritt: als „mein Freund“. So, wie der Chefredakteur als „der Chefredakteur“. Der Freund ist der Chef vom Chefredakteur, der CEO des Unternehmens nämlich. Und eigentlich ein netter Typ. Einer, mit dem man auch schwere persönliche Krisen durchstehen kann. Einer, der einen manchmal ganz fest an sich drückt und auf den Kopf küsst. Diesen Freund will der Erzähler dazu bringen, den schmuddeligen, unmöglichen Vorgängen in seinem Medienhaus ein Ende zu bereiten.
Er wird in seinem Bemühen zunehmend verzweifelter, weil er nicht zum Big Boss durchdringt, der sich bloß nicht dabei stören lassen will, seinen Konzern zur wahnsinnig modernen Weltmarke hochzutrimmen. Immer mehr Frauen wenden sich an ihn, von dem sie sich wünschen, er brächte den im Grunde lächerlichen Redaktions-Casanova zu Fall.
Hat er, der zum Helden auserkorene, Hin- und Hergerissene nicht eh längst abgeschlossen mit den Geschäftspraktiken des Medienhauses, hat er nicht eine Wut auf die Scheinheiligkeit seines Freundes, des „Salongeistmenschen“, der das schmierige Vorgehen seines Senders nie genau kennen will, es aber immer verteidigt?
Roman „Noch wach?“: Ein Sittengemälde unserer Zeit?
Das ist, grob umrissen, die Handlung des am Mittwoch erschienenen, vom Kiepenheuer & Witsch-Verlag als „Sittengemälde unserer Zeit“ angepriesenen Romans „Noch wach?“. Geschrieben hat ihn Benjamin von Stuckrad-Barre. Es ist der Roman, den die gesamte Medienbranche lesen wird. Und dessen Veröffentlichung besonders im Axel-Springer-Verlag mit banger Erwartung entgegengesehen wurde. Vorangestellt ist dem Roman, dass er „in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen“, „jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte“ sei.
Aber nicht nur ist es so, dass sich hinter dem Erzähler die Person Benjamin von Stuckrad Gestalt annimmt. Oder zumindest die Romanfigur Benjamin von Stuckrad-Barre, die zuletzt in der Drogen- und Magersuchtbeichte „Panikherz“ ihren Auftritt hatte. In „Noch wach?“ ist diese Figur wieder im Hotel Chateau Marmont in Los Angeles, lernt dort die Ikone der #Metoo-Bewegung Rose McGowan kennen.
Mathias Döpfner und Julian Reichelt als literarische Figuren?
Später lässt er sich von den Frauen Sexismus erklären („Ich will dir mal was erzählen über deine sensationelle Neuentdeckung SEXISMUS: Das ist überall, jeden Tag. Get over it!“) und die Verlogenheit, die damit einhergeht, dass Frauen immer auch Kalkül unterstellt wird, wenn sie die Geilheit der Männer auf ihre Weise ausnutzen. Ja, warum denn kein Kalkül? Jedenfalls ist der Erzähler ein Lernender, der immer tiefer in den Wirbel aus Ablehnung eines bestimmten Männer-Typs, aus Empathie für die ausgenutzten Frauen und aus den Stressmomenten einer komplizierten Freundschaft gerät.
Es ist auch so, dass in diesem in seiner Bösartigkeit auch komischen Buch Springer-Chef Mathias Döpfner und der Ex-Chefredakteur der „Bild“, Julian Reichelt, kaum verhüllt ihre Auftritte haben. Mit seinem „Freund“ ist der Erzähler eher unfreiwillig einmal in Kalifornien unterwegs – „Mein Freund war mit einigen seiner FÜHRUNGSKRÄFTE hierhergekommen, und diese Reise war ein derart durchgeplanter Blenderunfug, es war zum Totlachen“. Diese Springer-Bildungsreisen ins Silicon Valley gab es wirklich, man kann sich die im Roman erwähnte Konzern-Doku dazu auf Youtube anschauen.
„Noch wach?“: Der CEO im Hoodie aus Cashmere
Im Roman sitzt man gemeinsam im Auto, der Freund düst gerne über den Freeway, weil man da so herrlich frei ist: „Auf gar keinen Fall war es jetzt geboten, Scherze über seine seltsame Kleidung zu machen; er trug einen STANFORD-HOODIE aus CASHMERE, eine Sonnenbrille mit bunt changierenden Gläsern – und, anders als sonst, kein Haargel, was bei seinem noch immer sehr kräftigen Haarwuchs eine wirklich seltsame Ananasfrisur erzeugte. Kurzum, er sah komplett verrückt aus“.
Man kann nicht anders und hört das Gelächter in Redaktionen, warum nicht auch denen von Springer. Dieser Roman geht nicht zimperlich um mit seinen Figuren – und den Personen, die wir stark hinter ihnen vermuten.
- Mathias Döpfner entschuldigt sich für abfällige Äußerungen
- Enthüllungsbuch über Mathias Döpfner kommt auf die Bühne
- Schwere Vorwürfe gegen Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner
Benjamin von Stuckrad-Barre ist der Chronist des Landes, Fänger des Zeitgeists, Porträtist von dessen Protagonisten, ja, so heißt es immer. Stimmt auch halbwegs. Aber im Kern schrieb er immer über sich, seit er mit „Soloalbum“ die Bildfläche betrat. Keine Überraschung: Das ist auch bei „Noch wach?“ so. Inwiefern geht es da nun um ihn, Stuckrad-Barre, dessen Erzähler in „Noch wach?“ irgendwann durch eine auch von ihm in Brand gesteckte Medien- und Gesellschaftsszenerie wutmarschiert? Was macht diesen Erzähler, der seinen ehemaligen Leuten nur noch Hass entgegenschleudert, zu Stuckrad-Barres Alter ego?
Stuckrad-Barres Abrechnung mit dem „Höllenhaus“
Es ist, es kann nur die Erkenntnis sein, viel zu lange mit jenen Leuten mitgegangen zu sein – „Noch wach?“ ist eine sehr persönliche Abrechnung mit einem Medienhaus, in dessen Dunstkreis sich Stuckrad-Barre zehn Jahre bewegte. Es ist ein mit immensem literarischen Aufwand betriebene Lossagung von dessen Lenker. Eine Abrechnung mit dem „Höllenhaus“, wie der Erzähler den Roman-Konzern einmal nennt, mit dem Boulevardjournalismus. Und es ist also irgendwie, auch das, eine Abrechnung mit seiner eigenen, Stuckrad-Barres Vergangenheit.
Verkleidet ist dies alles als Roman, weil sich reale Personen, die sich in einem Roman zu deutlich wiedererkennen, rechtlich zur Wehr setzen können, Kunstfreiheit hin oder her, siehe das Verbot von Maxim Billers Roman „Esra“ vor 20 Jahren.
Stuckrad-Barre im „Spiegel“: „Kein Schlüsselroman“
In „Noch wach?“ berät sich die Erzählerfigur mit seinem Anwalt, als sie gegen den Medienkonzern in den Krieg zieht. Der Autor Stuckrad-Barre dürfte das auch getan haben. Und hat sich deswegen am Mittwoch in Interviews mit dem „Spiegel“ und dem ZDF positioniert. Stuckrad-Barre („Ich würde niemals ein Buch über diesen Mann schreiben. Mein Buch ist Literatur und kein Klatsch.“) verneinte dabei, dass Julian Reichelt Thema von „Noch wach?“ sei und sagte außerdem den unschlagbaren, bemerkenswerten Satz: „Das gesamte Personal dieses Romans ist anhand der Wirklichkeit frei erfunden.“
Es handele sich keineswegs um einen Schlüsselroman, und Parallelen zwischen seinen Figuren und Männern wir Döpfner und Reichelt seien „rein zufällig“. Reichelt sieht das offenbar anders. Ebenfalls am Mittwoch wurde bekannt, dass der Journalist einen Anwalt damit beauftragt hat, den Roman auf Verletzungen seiner Persönlichkeitsrechte hin zu untersuchen. Reichelt bestreitet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe des Machtmissbrauchs gegenüber Untergebenen in seiner Zeit als „Bild“-Chef. Selten war bei einer Bucherscheinung so viel geboten.
Roman „Noch wach?“: Ein zorniges Spiel mit Meta-Ebenen
Ja auch schon vorher; diese PR aus Gerüchteküche, VIP-Unterstützung und Produktvorenthaltung – erst am Erscheinungstag wurde der Roman den Journalisten zugänglich gemacht – erlebt man jedenfalls selten. Es ist alles ein Spiel mit Meta-Ebenen und doch sehr angestrengt-ernsthaft: Die Gefahr, in juristische Scharmützel zu geraten, wollen Verlag und Autor minimieren.
So bleibt es den Leserinnen und Lesern überlassen, ob sie in der Romanfigur „mein Freund“ tatsächlich Stuckrad-Barres langjährigen Freund Döpfner und im „Chefredakteur“ seinen Opponenten Reichelt erkennen wollen oder nicht. Als Roman muss man Stuckrad-Barres Buch so oder so lesen. Aber es ist zweifelhaft, ob er ohne reale Backstory um Macht, Machtmissbrauch und Verrat funktionieren würde. Was den Text zusammenhält, ist der Zorn der Erzählerstimme.
Er zielt auf den Umgang mit Macht. Aber dieser Zorn ist auch irre persönlich. Der Roman so entschieden unversöhnlich, dass man tiefe Verletzungen vermutet und den Wunsch, zu verletzen auf merkwürdig peinvolle Weise wahrnimmt. „Jaja, ich weiß, sagte er, wie so oft, wenn er etwas nicht wusste“, heißt es einmal über den Freund, es ist das ultimative Abwinken. Kein Bock mehr auf den Typen.
Ist „Noch wach?“ in seinem Furor ein auch lustiges Buch? Ja. Ein wütendes? Ja. Ein gemeines? Ja. Ein wichtiges? Sicher!
Beklemmende Soziotope der Unmoral und Abgehobenheit
Es ist ein neuer Boost für #metoo. Es ist gesellschaftlich relevant. Es erzählt viele schaurige Geschichten. Zum Beispiel die vom Ende einer Freundschaft. Und es gibt Hinweise auf die beklemmenden Soziotope der Unmoral und Abgehobenheit, die in den obersten Stockwerken großer Unternehmen entstehen können. Ihnen gilt die Verachtung dieses Buchs, das oft ironisch und bitter ist.
Vor allem aber berichtet es von Männern, die immer noch glauben, sie könnten sich nehmen, was ihnen angeblich zusteht.