Hamburg. Das Hamburger Kammerballett sendet mit „White Noise“ im First Stage Theater ein erstes Lebenszeichen – Überraschungen inklusive.

Einen Orchestergraben gibt es nicht im Altonaer First Stage Theater. Weshalb die Musiker nicht in der Tiefe sitzen, sondern unter der Decke: auf meterhohen Hochstühlen, Stahlkonstruktionen, die vor dem Musizieren erklettert werden wollen. Doch während Asiia Garipova auf ihren Stuhl steigt, vergisst sie ihre Violine, und als ein Bühnentechniker sie ihr hochzuwerfen versucht, kracht das Instrument auf den Boden – „Sorry.“ Kurz ist man erschrocken. Ist hier tatsächlich etwas zu Bruch gegangen?

Nein, war inszeniert. Wobei es schon ein hübscher Gag ist, dass die erste performative Aktion in Edvin Revazovs Choreografie „Britten-Tanz“ nicht von den Tänzern kommt, sondern von den Musikern.

„Britten-Tanz“, entstanden als Co-Produktion mit dem OperaEstate Festival in Bassano del Grappa, eröffnet den „White Noise“ betitelten Abend, mit dem das von Revazov gegründete Hamburger Kammerballett hier debütiert. Der künstlerische Leiter ist im Hauptberuf Erster Solist bei John Neumeiers Hamburg Ballett; das Kammerballett ist eine Nebenbeschäftigung, wenn auch eine mit ernstem Hintergrund: Der 1983 in Sevastopol auf der Krim geborene Revazov hat vergangenen Sommer sieben junge Tänzer aus Kiew, Charkiw und Lwiw um sich geschart, die nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 nach Westeuropa geflohen waren.

Hamburger Kammerballett: Ukrainische Tänzer bekommen Unterstützung

Ziel ist einerseits die konkrete Solidarität mit den geflüchteten Kollegen, andererseits eine freie Tanzkompanie für Profitänzer mit klassischer Ausrichtung. So etwas gibt es in Hamburg bislang noch nicht.

Zwar beherbergt die Hansestadt mit dem Hamburg Ballett eine weltweit gefeierte, klassisch orientierte Kompanie, diese sendet jedoch kaum Impulse in die konsequent zeitgenössisch arbeitende freie Szene. Wobei, ganz unabhängig ist das Kammerballett nicht: Unterstützt wird die Gruppe vom Hamburg Ballett, die Tänzer dürfen bei den Ballett-Klassen mittrainieren, abends können sie die Räume nutzen.

Der künstlerische Leiter Edvin Revazov füllt mit seinem Vorhaben eine Lücke

All das hat die freie Szene nicht zur Verfügung, dennoch füllt Revazov mit seinem Vorhaben eine Lücke. In Hamburg gibt es zu wenig Räume, in denen klassisch getanzt werden kann – auch das First Stage Theater ist nur bedingt geeignet. Schon für die neun Tänzer (das siebenköpfige Kammerballett wurde fürs Debüt mit zwei Gästen vom Ukrainischen Nationalballett erweitert) ist die Bühne im Grunde zu klein.

Auf der anderen Seite hat die Präsentation auf einer Kammerbühne eben auch eine Unmittelbarkeit zur Folge, die man beim klassischen Tanz nur selten sieht, eine Nähe zu den Tänzerinnen und Tänzern, die zunächst befremdet, dann aber wie selbstverständlich zum Teil des Stücks wird. Man erlebt das technische Können des Ensembles direkt mit, die Athletik, die Sicherheit, die freilich nie in forcierte Synchronizität abrutscht. Die Performance in „Britten-Tanz“ hat etwas Spielerisches, ein halb fröhliches, halb melancholisches Springen um die Musikerstühle.

„White Noise“: Choreografisch wird eine gediegen neoklassische Ästhetik bedient

Dass der Abend nicht zur kalten Perfektion wird, dafür sorgt auch der Humor, mit dem Revazov seine Choreografie auflädt – und der schließlich zur Folge hat, dass der eigene Anspruch der klassischen Orientierung ein wenig in den Hintergrund rückt. Ja, es wird auf Spitze getanzt, ja, Arabesque, Fouetté, Plié, ein Großteil des Bewegungsrepertoires ist aus dem klassischen Ballett übernommen, aber „Britten-Tanz“ will durchaus heutig sein. Nonchalant, wie die geworfene Violine zu Beginn.

Hamburger Kammerballett: Neue Gruppe bereichert Hamburger Tanzwelt

Nach der Pause geht der Abend diesen Weg weiter. Das Titelstück „White Noise“ hat Revazov zur Auftragskomposition von Alexander McKenzie choreografiert, als „Zusammenspiel aus klassischer und zeitgenössischer Bewegungssprache“, so das Programmheft. Wobei: Wirklich zeitgenössisch sind weder die Musik noch der Tanz, musikalisch bewegt sich McKenzie entlang minimalistischer Konvention, während choreografisch eine gediegen neoklassische Ästhetik bedient wird. Kein Fehler – die Bilder von träumerischer Einsamkeit bei gleichzeitiger Harmonie, die „White Noise“ aufruft, sind stimmig, die Tänzer auf den Punkt, nur dramaturgisch geht diesem Stück über eine Dreiviertelstunde langsam die Luft aus.

Aber es muss ja auch gar nicht bis ins Letzte dramaturgisch durchdacht sein. Der ganze Abend funktioniert vor allem als erstes Lebenszeichen einer grundsympathischen, technisch hochprofessionellen Gruppe. Und dass diese die Hamburger Tanzwelt bereichern wird, dafür ist „White Noise“ ein Versprechen auf mehr.