Hamburg. Die Ausstellung „Kerben und Kanten“ ist eine gewitzte Auseinandersetzung mit den Holzschnitten des Schweizer Expressionisten.
Mehr als ein Epigone: Meist wird Hermann Scherer in Verbindung zu seinem Freund (und Konkurrenten) Ernst Ludwig Kirchner gezeigt. Die Ausstellung „Kerben und Kanten. Hermann Scherer – Ein Schweizer Expressionist“ im Ernst Barlach Haus versucht jetzt einen neuen Blick auf den in seiner Heimatstadt Basel längst als eigenständig anerkannten Künstler.
Museumsleiter Karsten Müller ignoriert die Gemälde des 1927 mit 34 Jahren gestorbenen Scherer weitgehend und nimmt stattdessen seine Arbeit mit Holz in den Blick: Holzschnitt, Druckstöcke, ausgehend von diesen Holzskulpturen. Mit Holz entwickelte der ausgebildete Steinmetz ab 1924 eine ganz eigene Ästhetik, „er schnitzte sich frei“, so Müller. Vor allem aber bieten die Arbeiten in Holz den Anknüpfungspunkt zu Ernst Barlach: Dessen „Wüstenprediger“ (1912) tritt in einen Dialog mit Scherers „Der Redner“(1926), die fein ausgearbeitete religiöse Figur steht einem deutlich groberen, fast karikaturhaften Abbild des nach und nach immer weiter nach links gewanderten Politikers Otto Rühle (1874–1943) gegenüber.
Was einerseits mit Christentum und Kommunismus die zwei Pole von Scherers Denken absteckt, andererseits den Schweizer Künstler in dem Ausstellungshaus im Jenischpark verortet. Weil durch diese Kombination eine Nähe zwischen Scherer und Barlach deutlich wird, auch wenn beide einander wahrscheinlich nicht kannten.
Ein neuer Blick auf Hermann Scherer im Ernst Barlach Haus
Interessant ist dabei Scherers Zugriff auf den Holzschnitt. Die Ausstellung zeigt das Ölgemälde „Atelierfest“ (1924/25) und stellt neben dieses Bild einen Holzschnitt, der dasselbe Motiv zeigt und plötzlich eine künstlerisch radikalere Ebene aufmacht. Solche Sprünge zwischen den Gattungen gelingen „Kerben und Kanten“ mehrfach: Die Skulptur „Mann und Weib“ (1924) steht prägnant im Raum, aber wenn man die Holzschnitte an den Wänden genau studiert, dann fällt einem auf, dass dasselbe Motiv auch hier auftaucht. Die Ausstellung beweist da einen Witz, den man dieser vergrübelt wirkenden, düsteren Kunst auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte.
Tatsächlich starb Scherer jung, und einem Bild wie „Der Kranke“ (1926) scheint das Dahinsiechen schon eingeschrieben. Aber Vorsicht: Der Druckstock zu „Der Kranke“ wurde doppelt verwendet, und in der Ausstellung sieht man auch, welches Bild mit der Rückseite gedruckt wurde: „Große Tessiner Landschaft“, ein Bergpanorama, dem das Leidende der Vorderseite vollkommen abgeht. Man sollte es sich nicht zu einfach machen und dieses Werk als expressionistische Schmerzensmann-Kunst abtun.
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„Kerben und Kanten“ ist konventionell aber stimmig gegliedert in sieben Motivkapitel, darunter „Selbst“, „Freunde“ und „Akte, Paare“. Spannend: Scherers Auseinandersetzung mit Dostojewski in der Mappe „Raskolnikoff“ (1924/25), die sich mit dem Roman „Verbrechen und Strafe“ befasst und hier einen ähnlich zerrissenen Charakter wie Hermann Scherer selbst porträtiert.
Kerben und Kanten. Hermann Scherer – Ein Schweizer Expressionist bis 4.6., Ernst Barlach Haus, Baron-Voght-Straße 50a, Di–So 11.00–18.00; www.barlach-haus.de