Hamburg. Regisseurin Sarah Polley ist mit „Die Aussprache“ ein beeindruckendes Comeback gelungen.
Vergebung gehört zum Glauben. Und ist vielleicht die größte Prüfung. Aber kann man wirklich vergeben, was diesen Frauen in einer abgeschiedenen mennonitischen Gemeinde geschehen ist? Über Jahre wurden immer wieder einige von ihnen des Nachts betäubt und vergewaltigt. Hinterher behaupteten die Männer des Dorfes, es seien Einbildungen oder Dämonen gewesen, man unterstellte den Opfern sogar, sich nur wichtig zu machen. Dann aber wird einer der Peiniger ertappt. Er nennt weitere Namen. Und alle stammen aus der Gemeinde. Ein Schock für die Frauen.
„Die Aussprache“ basiert auf dem gleichnamigen Roman der Kanadierin Miriam Toews, die selbst bei Mennoniten, einer evangelikalen Freikirche, aufwuchs und reale Begebenheiten verarbeitete, die 2009 in einer Gemeinde in Bolivien geschehen sind. Nun hat Sarah Polley den Roman fürs Kino adaptiert. Und absolviert damit ein fulminantes Comeback. Hat sie doch seit zehn Jahren keinen Film mehr gedreht.
Die Breitwandbilder sind ein Kontrast zur herrschenden Engstirnigkeit
Die unfassbaren Geschehnisse werden dabei gleich in den ersten Minuten erzählt, von einer Stimme aus dem Off. Die Männer sind dann auch alle weg, um die Übeltäter der Polizei in der Stadt zu überstellen. Sie kehren allerdings in zwei Tagen zurück. Und fordern die Frauen auf, den Tätern zu vergeben – ansonsten müssen sie die Gemeinde selbst verlassen.
Die Frauen haben also ganze zwei Tage, um sich zu beraten, auf dem Heuboden der Dorfscheune. Das ist der eigentliche Film. Der deutsche Titel „Die Aussprache“ ist dafür fast zu schwach. Der Originaltitel „Women Talking“ trifft es viel besser. Denn die Gemeinde lebt sehr gottesfürchtig – und nach einem sehr veralteten Weltbild. Das Lesen und Schreiben wird nur den Jungen beigebracht. Die Frauen haben für die Fortpflanzung der Familie zu sorgen – und für deren Zusammenhalt. Über intime Dinge wird schon gar nicht gesprochen. Es ist für alle das erste Mal, dass sie so offen miteinander reden.
Flirrende Sommerbilder, deren Farben allerdings entsättigt und gebleicht wurden
Das klingt nach einer konstruierten Versuchsanordnung. Und fast der gesamte Film spielt in der Scheune, ein Kammerspiel, wie gemacht fürs Theater, aber nicht unbedingt für die Leinwand. Sarah Polley ist es jedoch gelungen, großes, starkes Kino daraus zu machen. Bewusst in Cinemascope gedreht, mit Breitwandbildern, die einen starken Kontrast bilden zur Engstirnigkeit dieses Dorfes. Immer wieder geht der Blick hinaus auf friedliche Felder und satte Wiesen, wo die Kinder spielen. Flirrende Sommerbilder, deren Farben allerdings entsättigt und gebleicht wurden. Weil sich der Schock wie ein Schatten über das Leben hier gelegt hat.
Sarah Polley konnte für ihren Film großartige Schauspielerinnen gewinnen. So was birgt allerdings auch eine Gefahr, kann es doch schnell zum eitlen Star-Kino werden. Der Regisseurin ist es indes gelungen, sie alle zu einem echten Ensemble zu verschweißen. Wobei die Stars ganz hinter ihren Figuren verschwinden und letztere nun leidenschaftlich darüber diskutieren, ob sie bleiben und vergeben, ob sie kämpfen oder ob sie gehen sollen.
Dabei prallen die sehr unterschiedlichen Positionen aufeinander. Da ist die stille Ona (Rooney Mara), die von einem der Peiniger schwanger wurde, da ist die ängstliche Mariche (Jessie Buckley), die von ihrem Mann geschlagen wird, da ist die strenggläubige Scarface Janz (Frances McDormand), die Vergebung einklagt, deren Narbe im Gesicht aber wohl auch von gewalttätigen Züchtigungen zeugt, und da ist die aufbrausende Salome (Claire Foy), die einen der Täter mit einer Sense angegriffen hat und der deshalb selbst eine Strafe droht.
"Die Aussprache": Unaufgeregt und doch hochemotional
Unter all diesen Frauen gibt es nur einen Mann, August (Ben Whishaw), den Lehrer der Schule, der beim Treffen in der Scheune als Einziger lesen und schreiben kann und das Für und Wider protokollieren soll. Anfangs will der Schulmeister fast reflexartig die Diskussion leiten, schnell wird er aber eines Besseren belehrt. Und wird zunehmend sprachloser bei dem, was er da zu hören bekommt. Ganz anders ergeht es den Frauen, die immer sprachlos waren, nun aber überhaupt das erste Mal zusammenkommen, über Glaube, Gewalt und (Ohn-)Macht sprechen und sich ganz existenzielle Frage stellen. Wer sie eigentlich sind und welchen Stellenwert sie haben.
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Unaufgeregt und doch hochemotional handelt „Die Aussprache“ von weiblicher Selbstfindung und Selbstbehauptung. Ein kleiner, intimer und doch ganz großer, intensiv gespielter und inszenierter Film, der zwar einen ganz speziellen Fall behandelt, aber all die Themen anreißt, die derzeit, durch die #MeToo-Debatte angestoßen, breit in der Gesellschaft diskutiert werden. Ein wichtiger Film.
„Die Aussprache“, 105 Minuten, ab 12 Jahren, läuft ab 9.2. im Abaton, Koralle, Zeise