Hamburg. Ein Film über den Verlust der kindlichen Unschuld, durch den eine Freundschaft zerbricht – ein starkes, eindringliches Kinoerlebnis.

Ein einziger Satz beendet jäh eine enge, zärtliche Freundschaft. Ein Satz, der nicht mal vorwurfsvoll, eher lapidar fällt. Und doch tiefe Wirkung zeigt: „Seid ihr zwei zusammen?“ Die beiden Jungen Léo (Eden Dambrine) und Rémis (Gustave De Waele) sind bis dahin unzertrennlich. Sie tollen und toben durch die bunten Blumenfelder von Léos Eltern. Sie lachen und nehmen sich liebevoll in den Arm.

Ganz selbstverständlich übernachtet der eine beim anderen, dann liegen sie eng umschlungen beieinander. Und schmieden gemeinsam Pläne, was sie mal machen werden, wenn sie groß sind. Léo will in die große Welt reisen. Rémis ginge mit. Um bei ihm zu sein. Rémis lässt Léo auch als Einzigen zuhören, wenn er auf seiner Oboe übt. Ein echter Liebesbeweis. Und auch die Eltern gehen ganz natürlich und ungezwungen mit dem engen Band der beiden Jungs um. Rémis’ Mutter bezeichnet Léo sogar als ihren „Herzenssohn“.

"Close" – die Geschichte einer Seelenverwandtschaft

„Close“ heißt dieser belgische Film, der jetzt anläuft. „Nah“ also. Und wirklich sind die beiden so nah, dass kein Blatt Papier zwischen sie passt. Auch die Kamera ist dabei ganz nah bei ihnen und erfreut sich, wie deren Umwelt, an dieser innigen Kinderfreundschaft und Seelenverwandtschaft. Die so zart ist und so unschuldig.

Bis die beiden 13-Jährigen, nach nur wenigen Filmminuten, von der Grundschule aufs Gymnasium wechseln. Und dort am ersten Tag die lapidare Frage fällt. Gestellt von einem Mädchen, das wohl keine Probleme damit hat, es nur wissen will. Aber da verdunkelt, verdüstert sich Léos hell lachendes Kindergesicht. Vehement streitet er das ab und geht sofort auf Distanz. Will in der Klasse nicht neben Rémis sitzen, nicht mehr mit ihm zur Schule radeln. Und statt weiter Zeit mit ihm zu verbringen, lieber in der Eishockeymannschaft spielen. Wo es rauer und härter zugeht.

Coming-of-Age-Film "Close" dürfte ein Klassiker des Genres werden

Auch da bleibt die Kamera ganz nah bei Léo, der immer einsilbiger wird, zunehmend verhärtet, versteinert, verpanzert. Und Rémis ignoriert. Der Freund aber versteht nicht, wieso Léo plötzlich so anders ist, will um diese Freundschaft kämpfen und leidet unter Léos Ablehnung. Bis es zu einer Katastrophe kommt, die alles verändert, die eine Leerstelle, ein klaffendes Loch hinterlässt. Wo die Unschuld zur Schuld wird, mit der man leben und umgehen muss, so schwer es auch fällt.

Auf der kommenden Berlinale ist die Retrospektive dem Coming-of-Age-Film gewidmet. Jenem Genre also, das vom Erwachsenwerden, vom Reifeprozess, vom Verlieren der kindlichen Unschuld handelt. Und von den markanten Momenten, in denen sich das vollzieht.

Einen Vorgeschmack leistet dieser Film, der bald ein Klassiker des Genres werden dürfte. Weil er eine Freundschaft betrachtet, die sicher Liebe ist, aber eine noch ganz kindliche, präpubertär undefinierte. Und dies mit einer Selbstverständlichkeit und Fluidität zeigt, wie das noch vor einem Jahrzehnt kaum möglich gewesen wäre.

"Close" – belgischer Film ist für den Auslands-Oscar nominiert

Aber dann zerbricht diese Freundschaft eben. An – ja woran eigentlich? Homophobie? Mobbing? Toxischer Männlichkeit? Dafür werden auch die anderen Kinder zu unschuldig und unbedarft gezeichnet. Es sind eher die eigenen Vorstellungen von Geschlechterrollen und wie man sich als Junge zu verhalten hat. Vorstellungen, die in der Grundschule noch nicht galten, der sich Léo aber in der neuen, reiferen Welt des Gymnasiums plötzlich verpflichtet fühlt. Womit er das Ende seiner unbeschwerten Kindheit selbst heraufbeschwört. Und vorzeitig erwachsen wird und mit den Konsequenzen leben muss.

„Close“ ist der zweite Film des Belgiers Lukas Dhont, der schon in seinem Debüt „Girl“ (2018) von gesellschaftlich geprägten Rollen- und Verhaltensmustern und einem Ausbruch daraus erzählte. Damals am Beispiel eines 15-jährigen Transmädchens, das Ballerina werden will und am Ende nicht warten will, bis es alt genug ist für eine geschlechtsangleichende Operation.

Regisseur Lukas Dhont beweist große Sensibilität

Schon dieses Drama erzählte Dhont ganz nah an seiner Hauptfigur. Und erwies sich dabei auch als sehr sensibler Schauspielerregisseur. Der junge belgische Tänzer Victor Polster erwies sich in der Hauptrolle als Offenbarung.

Dieselbe Sensibilität, dieselbe Einfühlung beweist Dhont nun auch in „Close“, den er wieder mit seinem Ko-Autor Angelo Tijssens geschrieben hat. Und in dem wieder ein Einzelschicksal an tradierten Gesellschaftsnormen zu zerschellen droht. Erneut hat er dabei einen Darsteller entdeckt, der sich als Naturtalent erweist. Denn der junge Eden Dambrine hat eine Transparenz, die auch ohne Worte, allein mit seinen tiefen Blicken eine Verletzlichkeit und Verzweiflung ahnen lässt.

Ein starker, eindringlicher Film, mit dem sich der 31-jährige Dhont erneut als hoffnungsvoller Regienachwuchs empfiehlt. Schon mit seinem Debüt hat er es aufs Filmfestival von Cannes geschafft, wo „Girl“ in der Nebensektion „Un certain regard“ gleich vier Preise gewann. „Close“ lief dann im Vorjahr schon im Wettbewerb und gewann prompt den Grand Prix der Jury. Auch beim Europäischen Filmpreis war er ein Favorit. Und ist seit gestern nun auch für den Auslands-Oscar nominiert. Ein Film, der niemanden unberührt lässt – und einem mehr als nah geht.

„Close“ 104 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im 3001, Abaton Zeise