Hamburg. Über Hamburg geschrieben haben viele. Großstadtatmosphäre konnte aber niemand der Stadt einhauchen.
Eine Stadt prägt die Menschen, die in ihr leben. Und umgekehrt. Literarische Texte haben diese Beziehung schon immer abgebildet. Der Eimsbütteler Literaturwissenschaftler und Autor Werner Irro hat sich durch viele, viele Hamburg-Romane gelesen. Um deren Lektüre zielgerichtet in eine Art Best-of fließen zu lassen.
„Hamburg literarisch: Nicht irgendwo und irgendwie zu sein, sondern nur hier…“ heißt der jetzt erscheinende schöne Band, der viele der besten literarischen Hamburgensien auszugsweise versammelt. Notgedrungen musste Irro dabei auf den ein oder anderen Favoriten verzichten, was der Qualität der Zusammenstellung aber keineswegs schadet.
Hamburger Abendblatt: Ich vermisse Heinz Strunk, dessen verschattete Hamburgwelten, ob in Kiez-Kaschemmen oder an der Elbchaussee, literarisch ausführlich in Szene gesetzt sind. Wen hätten Sie noch gern dabeigehabt, und warum klappt es nicht mit jedem Text?
Werner Irro: Vielleicht ist es gut, diese Frage an den Anfang zu stellen, denn das ist meine große Befürchtung: dass manche nur das Inhaltsverzeichnis angucken, um zu schauen, wer alles dabei ist oder eben nicht. Einige Autorinnen und Autoren, die ich gerne dabei gehabt hätte, konnten keinen Platz finden, weil das Buch eben nur 280 Seiten hat. Am leichtesten kann man zeitgenössische Namen nennen, die man vermisst, vielleicht Brigitte Kronauer oder eben Heinz Strunk. Ich möchte den Blick gerne auf das lenken, was mein Buch sich vorgenommen hat, nämlich ein Hamburg-Panorama über 200 Jahre zu bieten. Die 24 literarischen Kapitel erzählen Geschichten über Hamburg, subjektiv, stimmungsreich und sehr unterschiedlich. Was war los in Hamburg um 1800 oder 1842 oder 1913? Wie sah die Stadt aus, was waren die Themen? Das habe ich über zwei Jahrhunderte hindurch verfolgt.
Sprechen wir tatsächlich über die vielen Text-Auszüge, die hier versammelt sind. Texte aus dem 18. Jahrhundert bis heute – mussten Sie lange suchen?
Irro: Mein Ausgangspunkt war, dass wir uns Geschichte einmal nicht von Historikern erzählen lassen, sondern von Schriftstellern. Was macht eine Schriftstellerin, die einen Roman schreibt? Sie nimmt sich Protagonisten, sucht sich ein Milieu, in dem die Handlung spielen soll. Damit das stimmig und glaubwürdig ist, muss sie alles wissen über eine Zeit und ebenso über den Ort. Meine These lautet: Mit einem Roman erfahren wir auf eine bestimmte Weise mehr und anderes über eine Zeit als durch einen historischen Bericht. Weil wir atmosphärisch dabei sind, weil uns ein Protagonist durch seine Nöte oder Freuden sofort an den Platz mitnimmt, wo der Roman spielt. Bei der Recherche gab es schöne Entdeckungen, etwa der bildstarke Bericht von Karl August Bürger über Hamburg im Jahre 1795 oder das Porträt von Georg Heinrich Sieveking. Beginnend mit diesen frühen Texten entfaltet sich gewissermaßen das Geschehen meines Buches.
Welche Maßstäbe legten Sie bei der Auswahl an?
Irro: Die Texte sollten jeweils eine ganz bestimmte Zeit in Hamburg kenntlich machen. Meine Annahme war, wenn es gelingt, das richtige Kapitel eines Romans auszuwählen, hat man einen unmittelbaren Zugang zu der beschriebenen Welt. So reihen sich die Kapitel aneinander, und das Bild, das dabei entsteht, wird immer vielfältiger. Besonders wichtig war mir dieser literarische, erzählerische Zugang zu einem Ereignis. Journalistische, historische Texte funktionieren anders.
Eine meiner liebsten Hamburgensien ist Sabine Peters‘ „Narrengarten“. Kennen Sie den Roman?
Irro: Ich teile Ihre Vorliebe, aber es gilt dasselbe wie bei Heinz Strunk: die Autoren aus der Gegenwart durften nicht zu viel Platz einnehmen. Ich entschied mich für Romanfiguren wie etwa Michael Kleebergs Karlmann, Simone Buchholz’ Charity Riley oder Tina Uebels Vorstadtjugendliche, sie sprechen entschieden jede für ein bestimmtes Milieu.
Ich kannte Larissa Reissner nicht, deren atmosphärischer Text „Der Geist des Hafens“ die Leserin und den Leser 100 Jahre zurückbeamt. Andererseits sind Hafenerlebnisse auch zeitlos. Ein sensationeller erster Satz, der, kommt ganz auf die Perspektive an, ja gar kein Quatsch ist: „Wie ein großer, eben gefangener, noch zuckender Fisch liegt Hamburg an der Nordsee.“ Wo haben Sie Reissner entdeckt?
Irro: Für die 1920er-Jahre werden üblicherweise die Arbeiter-Romane von Willi Bredel herangezogen. Larissa Reissner ist frischer, sie agiert forsch, kompromisslos. Ihre Texte erschienen nur in kleinen linken Verlagen. Die wenigen Tage im Oktober 1923, als Kommunisten planten, hier in Hamburg die Polizeiwachen zu stürmen und die Macht zu übernehmen, sind zwar nur eine Randnotiz in der Geschichte, aber sie gehören eben auch zu der Stadt. Es gab und gibt mehr als das solide Bürgertum.
Hans Erich Nossack riecht in Hamburg „Fäulnis und Verwesung“, als er nach dem Feuersturm im Jahr 1943 in die Stadt zurückkehrt. Wie sinnlich, und sei es mit bitterem Geschmack, sind die Hamburg-Texte?
Irro: Neben den berühmten Nossack-Text habe ich den eher unbekannten autobiografischen Bericht von Marione Ingram über den Feuersturm gestellt. Sie beschreibt aus dem Inneren der Stadt, wie die Welt zusammenstürzt. Was beide über das Grauen dieser Tage und Nächte schreiben, übersteigt unsere Vorstellungskraft. Je intensiver Autoren über Erlebnisse schreiben, umso mehr nähern sie sich ihnen „mit allen Sinnen“. Marianne Prell schildert, wie die Franzosen an Weihnachten 1813 in der Stadt wüten, Jakob Loewenberg zeigt das Gängeviertel als schmierig und schlüpfrig, Ralph Giordano atmet den „unvergleichlichen Duft der Unterelbe“ in Blankenese ein.
Welche Milieus werden beleuchtet?
Irro: Wenn wir 200 Jahre Hamburg aufblättern, aus der Perspektive der Literatur, haben wir in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich den Blick auf die bürgerliche Welt. Auf das kaufmännische Treiben in der Stadt, worüber sich alles andere definiert. Das ändert sich in der zweiten Hälfte. Die Missstände in der Stadt, Armut, mangelnde Hygiene, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse werden zu drängenden Problemen. In den Texten spiegelt sich das wider in den Themen Cholera, Gängeviertel, Auswanderung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehen wir die Verhältnisse gefestigter, das kleine Bürgertum, das jüdische Leben, die vielen verschiedenen Handelsgeschäfte, all diese Milieus lebten gut mit- und nebeneinander. Diese Welt wurde 1933 zerstört.
Welches ist denn Ihr urbanes Lieblingsbuch über Hamburg hinaus?
Irro: Das führt jetzt weit weg. Seit meiner Jugend habe ich alles gelesen, was deutschsprachige Autoren über Rom geschrieben haben, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Marie Luise Kaschnitz usw. Dieses Jahr wurde ein Roman von 1973 neu entdeckt und übersetzt, „Der letzte Sommer in der Stadt“ von Gianfranco Calligarich. Wie sich hier die Figuren durch die Stadt treiben lassen, eigensinnig, lässig, verletzbar, und die Stadt als Kulisse gezeigt wird, die die Menschen formt, das ist großartig beiläufig.
Sie sprechen in Ihrem Vorwort an, dass es keine Hamburger Version des unruhigen, Collagen-haften „Berlin, Alexanderplatz“ gibt. Auch „Manhattan Transfer“ ist literarisch unerreicht. Ich behaupte, das Fehlen eines hanseatischen John Dos Passos folgt aus der verhältnismäßigen Betulichkeit Hamburgs. Oder, wie Helmut Schmidt sagte: Hamburg ist eine schlafende Schöne. Und kein räudiges Berlin, möchte ich hinzufügen.
Irro: Was mich wirklich überrascht hat, war die massive Präsenz des Kaufmännischen in vielen Büchern. Und zwar sowohl thematisch als auch biografisch. Sieveking war Kaufmann, Heine war im Bankhaus seines Onkels tätig, Nossack war Bankkaufmann, Joachim Maass arbeitete in einer Handelsfirma. Andere Autoren kommen aus Familien, die sich mit Handel Wohlstand erarbeitet haben. Ich sehe, wie stark diese Welt auch die Literatur beeinflusst. Ist es nicht erstaunlich, wie wenig ein Begriff wie Großstadtliteratur zu Hamburg passt? Was für eine Großstadt ist Hamburg denn? Geben sich die Schriftsteller mit einer Fassade zufrieden? Meiner Beobachtung nach tun sie das nicht, schwenken aber schnell ab in die Innenwelten ihrer Figuren, und da spielen die Härten und Regeln des Stadtlebens nur noch bedingt eine Rolle.
- Oskar Specks unglaubliche Reise mit dem Faltboot
- Neuer Hamburgroman: „Barmbek ist eine passive Aggression“
- Bei dieser Lektüre ist Spannung garantiert
Welcher Text hat Sie am meisten überrascht?
Irro: Weniger ein bestimmter Text, sondern die Kraft der Literatur überhaupt. Die Kraft einfacher Sätze. Carmen Korn kann auf zwei Romanseiten alles aufrufen, was das Leben 1919, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, ausmachte. Dörte Hansen beschreibt das Lebensgefühl einer jungen Frau in Ottensen von heute, oder Karen Duves Taxifahrerin fährt einen Großkotz in eine Kneipe nach St. Pauli. Wir lesen nur wenige Szenen, und eine Welt ist aufgerufen. Das kann nur Literatur.