Hamburg. “La Bohème“ überzeugt in der Spaßversion mit starken Sängern – selbst mit arg bemüht klingender Jugendsprache.

Glitzersakkos am Einlass und an der Garderobe. Roter Teppich und Absperrband im Zuschauerraum. Das Opernloft feiert die Eröffnung des imaginären „Club Momus“, ein Laden im Retro-Style, mit Disko-Kugel, super angesagt. Hier wird Swing getanzt, vor der Pause gibt’s sogar einen Crashkurs fürs Publikum. Tap – Step – Kick – Step. Und jetzt alle! Ganz schön was los.

An Ideen, Fantasie und Farben mangelt es der neuen Produktion von Puccinis „La Bohème“ nicht. Regisseurin Susann Oberacker und ihre Ausstatterin Claudia Weinhart holen das Stück in die Jetztzeit. Ihre Figuren – auf vier reduziert – sind keine mittellosen Künstlerinnen und Künstler des 19. Jahrhunderts, sondern junge Digital Natives.

Opernloft-Puccini: „Ich mache mich nicht zum Lauch, Bitch!“

Deren Währung ist die Aufmerksamkeit, bemessen an Likes, Abonnenten und Emojis. Alle, bis auf die schüchterne Mimi, hantieren ständig mit ihren Smartphones, posen, lächeln und grimassieren für Selfies. Sie leben für Social Media, für die Selbstinszenierung. Jede Aktion, jede noch so kleine Geste wird sofort dokumentiert. Eine Leinwand vorne links zeigt ihre fiktiven Instagram-Aktivitäten. Fotos, Bewegtbilder, Kommentare und die persönliche Statistik. Rodolfo hat über 100.000 Follower, Musetta sogar mehr als eine halbe Million. Krass!

Es gibt viel zu sehen, auf dem Screen, auf der Bühne und im Foyer. Pointiert und temporeich navigiert Susann Oberacker ihre drei Darstellerinnen und einen Darsteller durch den Abend. Und die haben richtig Lust. Sie versprühen Spielfreude und Energie. Das macht Spaß.

Banale Sätze auf der Leinwand, zauberhafter Gesang

Der einzige Haken: Was sie da tun und sagen, hat einen Großteil des Abends nur am Rande mit Puccinis Oper zu tun. Um ihre eigene Geschichte durchzukriegen, legt die Inszenierung den Figuren frei erfundene, manchmal angestrengt jugendsprachliche Texte in den Mund.

„Ich mache mich nicht zum Lauch, Bitch!“ steht da zum Beispiel als vermeintliche Aussage von Rodolfo auf der Leinwand geschrieben, als der nicht an der Türsteherin vom „Club Momus“ vorbeikommt und sie deshalb anpampt. Mimi hingegen, die als Garderobière im Club jobbt, begrüßt ihre Gäste mit den Worten: „Schön, dass ihr da seid. Bitte gebt Eure Jacken ab.“

Solche banalen Sätze zu lesen, während Mimi auf Italienisch gerade zauberhaft davon singt, wie sie von der Poesie und der Liebe träumt – das ist ziemlich hart. Diese Diskrepanz zwischen teilweise läppischen Neudichtungen und den hinreißenden Melodien tut manchmal echt weh.

Opernloft: Wenig subtile Bezüge zur Corona-Pandemie

Dagegen funktioniert die Inszenierung immer dann richtig gut, wenn die modernisierte Handlung und der Ausdruck der Musik zusammenfinden. Etwa, als Rodolfo und Mimi sich bei ihrer ersten Begegnung anschmachten, mit den berühmten Arien „Che gelida manina“ und „Si. Mi chiamamo Mimi“. Oder am Ende, als Mimi, geschwächt von einer unheilbaren Lungenkrankheit, stirbt.

Auch wenn man sich die aktuellen Bezüge zur Corona-Pandemie da noch etwas subtiler eingewoben vorstellen könnte: Diese Schlussszene, in der drei junge Menschen wie abgekapselt und in Zeitlupe um sich und ihre Smartphones kreisen und dabei die reale Welt mit ihrer todkranken Freundin Mimi völlig aus dem Blick verlieren, ist wirklich ergreifend. Ein starkes Bild für den Sog des Narzissmus, in den Instagram und Co uns beharrlich hineinzuziehen versuchen. Und ein musikalisch anrührender Moment.

Das Solistinnen- und Solistenquartett spielt nicht nur mitreißend, sondern singt auch toll. Aline Lettow gibt die Musetta als profitbewusste Influencer-Diva.

Songyan He feiert ein erfolgreiches Debüt im Opernloft

Die Mezzosopranistin Nora Kazemieh berührt in der Partie, die bei Puccini eigentlich ein Marcello ist, im Opernloft aber als androgyn-erotische Marcella traditionelle Genderkonzepte in Frage stellt: mit Lederbustier, Schlips und orangenem Jackett. Wie wandlungsfähig sie ihr warmes Timbre führt, demonstriert Kazemieh auch in der Pause, als sie den Rhythm&Blues-Klassiker „Fever“ mit überzeugend rauchiger Note ins Mikro raunt.

Der chinesische Tenor Songyan He verfügt über genau die Mischung aus Fülle und Schmelz, die man als Rodolfo braucht, und er hat auch das gefürchtete hohe C. Das brizzelt auf dem Trommelfell, gerade wenn man so nahe dran sitzt wie hier.

Songyan He feiert ein erfolgreiches Debüt im Opernloft. Ebenso wie die chilenische Sopranistin Rocio Reyes, die die nötige Leuchtkraft mitbringt, aber auch die zarten und verletzlichen Momente der Mimi wunderbar fein gestaltet.

Opernloft: Puccinis Schwelgereien werden ausgekostet

Einstudiert hat das alles wieder die musikalische Leiterin im Opernloft, Amy Brinkman-Davis, die die Aufführung vom Flügel aus lenkt und grundiert, und die diesmal ein paar Extra-Bravos verdient hätte. Weil sie – zusammen mit Tim Beger (Klarinette und Saxofon) und Andreas Krumwiede (Kontrabass) – raffiniert zwischen romantischer Oper und selbstarrangierten Swing- und Jazzstandards hin und her switcht.

Und weil sie die Schwelgereien von Puccini an den Tasten so schön, so liebevoll und so reich nuanciert auskostet, dass man die opulente Orchesterbesetzung des Originals, zumindest für den Moment, fast gar nicht vermisst.