Hamburg. Das Kunsthaus Hamburg zeigt die erste und extrem persönliche Soloausstellung der vielversprechenden kurdischen Künstlerin Leyla Yernic.

Ein schlichter Sekretär aus Holz wurde im Vorraum zur Ausstellung wie ein Altar aufgebaut, darauf stehen kleine gerahmte Fotografien und ein dekorativer „Love“-Aufsteller, in den Schubladen ist allerlei Krimskrams zu finden, was sich so anhäuft in einem jungen Künstlerinnenleben. Auch eine Plastikpistole ist darunter. Ein Keyboardständer lehnt an der Seite, unter dem Tisch stehen achtlos hingeworfen abgetragene Stiefeletten.

Was besonders auffällt: Im Regal liegen jede Menge Kunstbücher und Kataloge über die Hamburger Avantgarde-Malerin Anita Rée (1885-1933). Auf einem kleinen Monitor sind zwei dunkelhaarige Frauen in unterschiedlichen Szenen zu sehen, mal in einem Apartment, mal am Strand. Eine davon ist die Künstlerin Leyla Yenirce. Das Mobiliar stammt aus ihrer Wohnung. Es ist, als würde sie auf diese Weise eine persönliche Botschaft ans Publikum senden: „Was ihr hier seht, bin ich.“

Ausstellung Hamburg: Yenirce mit Karl H. Ditze Preis ausgezeichnet

Die 1992 im kurdischen Qubîn geborene Leyla Yenirce ist eine der vielversprechendsten jungen Künstlerinnen derzeit. Sie studierte an der HafenCity Universität und an der Hochschule für bildende Künste, wo sie mit dem Karl H. Ditze Preis für den besten Abschluss ausgezeichnet wurde; in ihrer Vier-Kanal-Videoinstallation „Somewhere Else“ setzte sie sich mit der medialen Rezeption und Inszenierung des Märtyrertods kurdischer Frauen auseinander. Sie war bereits an einigen Gruppenausstellungen beteiligt, unter anderem im Kunstverein Hamburg und in der Bundeskunsthalle in Bonn. Gerade ist sie mit dem Ars-Viva-Preis vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft 2023 ausgezeichnet worden.

„Vor zwei Jahren lernte ich Leyla an der HfbK kennen und sah mir ihre Abschlussarbeit an. Ich war total beeindruckt, auch lange Zeit noch danach, und dachte: ‘Diese Künstlerin hat so viel Energie’“, sagt Kuratorin Anna Nowak. So kam es zur ersten Soloausstellung. Der Titel, folgerichtig: „So Much Energy“.

Leyla Yenirce begab sich auf Spurensuche

Berührt und inspiriert vom Schicksal der Jüdin Anita Rée, die sich während der Weimarer Republik erfolgreich in einer von Männern dominierten Kunstwelt durchgesetzt hatte und dann aber 1933, vor dem aufkommenden Faschismus, sich in Kampen auf Sylt das Leben genommen hatte, begab sich Leyla Yenirce zusammen mit einer befreundeten Schauspielerin auf Spurensuche auf der Nordseeinsel, dies wird im Film gezeigt. Sie fragte sich, welche Umstände zum tragischen Schicksal der Malerin geführt haben könnten.

Im Laufe dieser künstlerischen Recherche erweiterte sich ihr Fokus, und es wurden noch andere Lebensgeschichten von Frauen, die sich in extremen Situationen Missständen widersetzt haben, hineingeflochten. Das Ergebnis, die Videoarbeit „Nacht. Schlaf. Die Sterne“, der Titel ist angelehnt an ein Gedicht von Walt Whitman, dringt zunächst akustisch in den Vorraum: Mal ist ein Wummern zu vernehmen, mal ein Sirren und dann wieder ein sphärischer Klang.

Energie greift auf den gesamten Raum über

Gespannt betritt man den großen Ausstellungsraum, und da begegnet einem Dunkelheit. Hinzu kommt kräftiger warmer Wind, der aus mechanischen Propellern in die Gesichter geblasen wird. Auf einer riesigen gebogenen Leinwand ist ein Meer aus wehenden dunklen Haaren zu sehen. Mit dem Wissen, dass Anita Rée die letzten Tage ihres Lebens auf Sylt verbrachte, scheinen sich die Haare in die Halme von Strandhafer zu verwandeln.

Die Bewegung wird durch den Wind wie durch den Sound verstärkt. Die Energie ist physisch spürbar und greift auf den gesamten Raum über. Yenirce, die auch als DJane arbeitet, verwebt darin starke Bässe und Synthesizerklänge mit Geräuschen rollender Panzer und legt darauf die Stimmen ihrer Protagonistinnen. Die britische Freiheitskämpferin Anna Campbell, die 2018 in der kurdischen Stadt Afrin im Kampf gegen das türkische Militär fiel, ist ebenso zu hören wie die irakisch-jesidische Menschenrechtsaktivistin Lamiya Aji Bashar, der die Flucht vor dem Islamischen Staat gelang.

Ausstellung Hamburg – "erschreckend aktuell"

„Wie beinahe erschreckend aktuell die vor etwa einem Jahr geplante Ausstellung ist“, sagt Kunsthaus-Direktorin Katja Schroeder. „Nicht nur das Thema Energie, das uns momentan alle beschäftigt, kommt hier durch die Windräder zum Tragen. Man könnte ebenso gut im Titel Energy durch Power ersetzen, denn hier geht es um die Selbstermächtigung von Frauen, um Feminismus und Krieg, verklärende Ideologie und widerständige Emanzipation.“

Hinzu komme auch die Symbolik von Haaren. Vor dem Hintergrund der Proteste im Iran und anderen Ländern als Reaktion auf den Tod der 22-jährigen Mahsa Amini und der solidarischen Geste vieler Politikerinnen und Prominenter, die sich daraufhin ihre Haare abschnitten, bekomme die Videoarbeit eine umso größere Relevanz.

„So Much Energy“ bis 4.12., Kunsthaus Hamburg (U Steinstraße), Klosterwall 15, Di-So 11.00-18.00, Eintritt 5,-/3,- (erm.), Künstleringespräch mit Anna Nowak und Leyla Yenirce 19.10., 19.00; Ausstellungsrundgang 25.11., 18.00; Finissage mit Karin Schick, Leiterin Klassische Moderne an der Kunsthalle, 4.12., 16.00. www.kunsthaushamburg.de