Hamburg. Das Familienstück „Alice im Wunderland“ dreht bei Regisseur Thomas Birkmeier auf der Thalia-Bühne nicht nur optisch mächtig auf.
Wichtigste Regel: Keine Regeln. „There are no rules“, steht unmissverständlich an Alice’ Kinderzimmerwand. Und es ist weniger eine Tatsachenbehauptung als der so aufmüpfige wie dringliche Wunsch einer Heranwachsenden.
Endlich aus dem viel zu pinkfarbenen Korsett der Kindheit ausbrechen! Endlich das Meerjungfrauenposter ab- und Beyoncé aufhängen! Endlich diesen fetten weißen Plüschhasen loswerden und nebenbei die eigene Mutter in den Wahnsinn treiben (die allerdings routiniert zu kontern versteht, dass andere Tiere ihre Brut einfach auffressen und anschließend ihre Ruhe haben; es ist herrlich).
"Alice im Wunderland": Knalliger Theatertrip
Wenn man den überschießenden Hormonhaushalt eines durchschnittlichen Teenagers mit all seinen Launen, Sehnsüchten, Unsicherheiten und Leidenschaften besonders glamourös visualisieren wollte, könnte man kaum näher dran sein als Thomas Birkmeier mit seinem knalligen Theatertrip nach Lewis Carrolls Klassiker „Alice im Wunderland“ am Thalia Theater.
Hier sind die Regeln ohnehin nicht durchschaubar, zwischen Innen und Außen wird nicht mehr groß unterschieden: „Nichts ist wie es scheint, es gibt kein Falsch und auch kein Richtig...“ Da kann man sich getrost fallen lassen, zum Beispiel in einen Kaninchenbau.
Thalia Theater: Meryem Ebru Öz als Alice
Und es gibt ein paar zeitgemäße Erweiterungen zum vielfach zitierten und noch öfter verfremdeten Original – das auf der Thalia-Bühne vor 30 Jahren in einer viel beachteten Fassung von Bob Wilson mit Tom Waits schon einmal Premiere feierte. Der Buch-Stand im Foyer führt tatsächlich noch Kühlschrankmagneten mit dem Alice-Schriftzug von damals.
Der Alice von heute öffnen sich nach einem filmisch fulminant gelösten Fall in die Tiefe nicht nur die wachsenden und schrumpfenden Türen zur freakigen Parallelwelt, sondern es tut sich auch ein kleiner Spalt zur Vergangenheit auf – und dem Publikum zugleich ein Fenster zu einer Gegenwart, in der deutsch-türkische Zweisprachigkeit für viele Hamburger Jugendliche zur Familiennormalität gehört. Was dennoch für zusätzliche Identitätsnöte sorgen kann.
Und so wird Alice von Meryem Ebru Öz gespielt und bekommt von Thomas Birkmeir einen kleinen Bruder namens Harun verpasst, der ihr beim als „freundliche Erziehungsmaßnahme“ aufgezwungenen Regen-Spaziergang mitsamt Kinderwagen abhanden kommt. Die Suche nach Harun wird zum Motiv für die Reise durch das verrückte Wunderland, das nicht zuletzt für die Kostümabteilung (Kostüme: Irmgard Kersting) wie eine vorgezogene Bescherung dahergekommen sein muss.
Thalia Theater: Üppige Inszenierung mit Musik
Wer Steffen Siegmund, diesen selbst in seinen Panikattacken noch lässigen „W.K.“ („Double-You-Käi“, also: Weißes Kaninchen), als Mann im Hasenkostüm verortet hatte, wird umgehend eines Besseren belehrt: Er sei vielmehr ein ausgewachsenes Kaninchen in einem Männerkostüm, stellt der ausgestopfte Kerl in weißen Knickerbockern, Strickpulli und äußerst empfindsamen Löffeln klar. Siegmund ist – in Ergänzung zur lebendigen, offenen Öz – als durchgeknalltes, dabei unendlich liebenswertes Karnickel der gar nicht mal so heimliche Star der Show.
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Dezenz ist Schwäche, diese alte Theaterweisheit gilt auch sonst an nahezu allen Fronten: Drehbühne, Lichtmaschinerie, Nebelmaschine, alles dabei. Nicht nur optisch (Sandra Flubacher als schmauchende Glitzerraupe, die an Dame Edna erinnert! Lisa-Maria Sommerfeld als angeknackstes Grusel-Ei Humpty Dumpty! Oliver Mallison, der als rote Königin an rund 20 Luftballons hängt!) wird aus dem Vollen geschöpft, auch musikalisch wird es üppig orchestral. Schon die erste Musikeinlage (Kompositionen: Gerald Schuller, Choreografie: Fiona Gordon) ist eine hollywoodeske Steptanznummer, in der sich weitere Nagetiere zum Tableau zusammenfinden.
"Die Wirklichkeit ist ein Spielzeug“
Das Ensemble scheint jedenfalls mächtig Spaß (und keine falsche Scheu auch vor Kalauern) zu haben, und dieser Spaß überträgt sich. Die vermeintlichen Nebenrollen sind hier besonders dankbar: Lisa-Maria Sommerfeld, die wie Sandra Flubacher gleich in mehreren Rollen überzeugt, hat als aufgekratzte Grinsekatze ihren Halloweensüßigkeitenvorrat besonders tief inhaliert.
Dass es am Ende nicht nur skurril und gruselig wird (tolle Verschränkung von Film und Bühne!), sondern auch mal ins Pathetische, fast Kitschige abrutscht – geschenkt. Keine Regeln! „Die Wirklichkeit ist ein Spielzeug“, heißt es – und wo, wenn nicht am Theater, kann man schließlich alle Variationen von Wirklichkeit austesten.
„Alice im Wunderland“, Thalia Theater, wieder am So 20.11., 16 Uhr, So 4.12., 11 Uhr (mit gebärdensprachlicher Übersetzung), außerdem zahlreiche Schülervorstellungen. Karten unter T. 328 14-444 und www.thalia-theater.de