Hamburg. Choreografin Jessica Nupen bringt ein diverses Ensemble auf Kampnagel zusammen. Ein Projekt mit vielen Herausforderungen.
In der frühen akuten Hochphase der Pandemie war an Gemeinschaft bekanntermaßen wenig zu denken. Es galt, sich zu isolieren, soziale Distanz zu wahren. Vor allem für international arbeitende Künstlerinnen und Künstler war das ein großes Problem – in manche Länder lässt sich immer noch nur schwierig reisen. Jessica Nupen, Hamburger Choreografin mit südafrikanischen Wurzeln, konnte seinerzeit ihr Opernprojekt „The Nose“ nur als hybride Filminstallation mit Livemusik realisieren.
Doch bereits vor der Pandemie hatte sie die Idee zu ihrem nächsten Stück mit dem Titel „Gemeinsam“, das am 27. Oktober auf Kampnagel seine Uraufführung erleben wird. Damals beschäftigte sie, wie Gruppierungen – Fridays for Future, aber auch Pegida – soziale Medien nutzen, um Anhänger zu mobilisieren. Parallel nahmen Phänomene wie Einsamkeit und Depressionen zu. „Dann kam Corona und trieb das Thema in extreme Dimensionen. Es wurde dynamisch“, sagt sie.
Kampnagel Hamburg: „Die Polarität war interessant"
„Die Polarität war interessant. Denn Einsamkeit hat etwas Zweischneidiges. Massenbewegungen leben davon, dass Menschen, die sich alleine fühlen, Teil von etwas größerem sein wollen und setzen Dinge in Bewegung.“ Der Einzelne und die Gemeinschaft – auch ein Thema in einer weltweit zunehmend gefährdeten Demokratie.
Bei Nupen hat sich durch all die Widrigkeiten die Beharrlichkeit nur noch verstärkt. Und so versammelt sie nun für „Gemeinsam“, das sie mit Co-Leiterin Maria Isabel Hagen erarbeitet, ein zehnköpfiges diverses Ensemble aus allen Ecken der Welt, von Japan bis Argentinien, von Dänemark bis Südafrika.
„In Südkorea habe ich Einsamkeit erlebt"
Alle Akteure bringen nicht nur kulturelle Unterschiede mit, sondern auch jeweils einen eigenen Sack an Erfahrungen mit dem Themenkomplex Einsamkeit und Gemeinschaft. Die Tänzerin Emilie Lund hatte zu Beginn der Pandemie eine lange Arbeitspause, doch dann folgten Auftritte in Dänemark, Mexiko und Südkorea. In Dänemark waren die Regeln bald recht pragmatisch. Bei schönem Wetter durfte man die Corona-Isolation sogar für einen Spaziergang verlassen.
In Mexiko hingegen sei es für die Kunstschaffenden sehr schwierig gewesen, erzählt sie. Neben der mangelnden künstlerischen Förderung habe es massive Probleme gegeben, überhaupt Essen auf den Tisch zu bekommen. „In Südkorea habe ich Einsamkeit erlebt. Ich war allein in einem Hotel und wurde dreimal am Tag kontrolliert. Das war sehr furchteinflößend. Ich habe mich sehr isoliert und überwacht gefühlt“, erzählt sie.
„Es gab viel Unsicherheit und Stress“
Der gebürtige Argentinier Marcelo Dono hat einen spanischen Pass, lebt aber seit elf Jahren in Deutschland und kam gerade aus Argentinien in Frankfurt an, als ihm das Theater Lübeck erst die Absage einer angesetzten Vorstellung übermittelte und am nächsten Tag auf unbestimmte Zeit den Spielbetrieb einstellte. Mit einem Flieger, der deutsche Staatsbürger aus Argentinien zurückholen sollte, gelangte er zurück zu seiner Familie.
Dort beschäftigte ihn zunächst vor allem, seine Mutter, die einer vulnerablen Gruppe angehört, nicht zu gefährden. Monate später flog er über Spanien zurück nach Deutschland, musste dabei allerdings an Militärposten vorbei. „Es gab viel Unsicherheit und Stress“, erinnert er sich. „Natürlich hat die Pandemie uns auch die Chance gegeben, innezuhalten und uns zu fragen: Wer bin ich eigentlich? Was will ich wirklich?“, so Dono. Diese Zeit habe auf jeden Fall Spuren hinterlassen.
„Wir waren für so lange Zeit getrennt"
Mit robust eingreifendem Militär sah sich die Tänzerin Sinazo Bokolo in Südafrika konfrontiert. In ihrem Township lebten die Menschen zunächst ihr Leben ganz normal weiter. „Corona galt als Krankheit, die nur reiche weiße Menschen bekommen. Als dann der Lockdown kam, wurde es kompliziert. Selbst für den Gang zum Supermarkt brauchte man ein Formular“, erzählt sie. Für sie persönlich war es bei aller Unsicherheit und Angst angesichts der unbekannten Krankheit zunächst eine willkommene Zwangspause. „Ich habe ein halbes Jahr gar nicht trainiert“, sagt sie. Das war eine Erholung. Später jedoch vermisste sie das Tanzen schmerzlich.
Alle drei schätzen es nun, sich unter anderem mit diesen Erfahrungen im Stück „Gemeinsam“ auseinandersetzen zu können. „Wir waren für so lange Zeit getrennt. Jetzt fühlt es sich fast wie früher an, aber wir sind alle durch einen Prozess gegangen. Man wertschätzt es anders, zusammen sein zu können“, sagt Emilie Lund. Und Marcelo Dono ergänzt „Das physische Zusammensein, dem Körper der anderen zu vertrauen wie auch dem eigenen, das verlangt gerade ein hohes Maß an Kommunikation.“
Anfangs gab es Hemmschwellen beim körperlichen Kontakt
Das hänge insbesondere auch mit der Besonderheit der Produktion zusammen, die explizit gruppendynamische Prozesse untersucht. Auch das Bewegungsmaterial entsteht unhierarchisch. „Es geht auch jenseits der Pandemie um Respekt, Vertrauen und Verantwortung, weil wir aus so vielen verschiedenen Kulturen kommen, haben die Dinge alle eine unterschiedliche Bedeutung“, so Dono. „Aber das ist auch die Schönheit dieser Gruppe. Es geht um Individualismus, aber eben auch um die Frage ,Was ist soziale Verantwortung?’
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Schön sei es, wieder zusammen zu sein, ergänzt Sinazo Bokolo. Zwar habe es beim körperlichen Kontakt anfangs noch Hemmschwellen gegeben, „aber jetzt fassen wir uns an und alles ist ganz normal.“ Es hat sich gezeigt, dass sich gemeinsam und mit gegenseitigem Vertrauen enorm viel schaffen lässt.
Jessica Nupen: „Gemeinsam“27. bis 29.10., jeweils 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de