Hamburg. Premiere am Ernst Deutsch Theater: „Die Mitschuldigen“, ein Frühwerk des Dichters, muss nicht unbedingt auf die Bühne.

Manche Stücke werden eher selten aufgeführt – nicht jede Zeile von anerkannten Großdichtern lohnt das Hervorholen. „Die Mitschuldigen“, diesen nicht eben einladenden Titel trägt ein Frühwerk, 1768/69 geschrieben, von dem gerade mal 20-jährigen Johann Wolfgang von Goethe. Doch nach wenigen Minuten der von Wolf-Dietrich Sprenger eingerichteten Premiere am Ernst Deutsch Theater stellt sich die Frage der Dringlichkeit.

Zu sehen ist ein Hotel, das ein wenig an eine Theaterkantine der 1980er-Jahre erinnert, Paneele an den Wänden, schlichtes Holzgestühl, ein Tresen unter kaltem Neonlicht. Die Bühne stammt von Achim Römer, dem langjährigen Ausstatter Sprengers. Hier versucht der Wirt (Oliver Warsitz) die Wand zu streichen, hinter dem Tresen führt seine patente Tochter Sophie (Ines Nieri) das Regiment. Ihr Mann Söller (Christian Nickel) lungert derweil im Bademantel herum. Ein Taugenichts, der sich lieber den Zigaretten, dem Wein und dem Spiel hingibt und die Arbeit offenbar nicht erfunden hat.

„Die Mitschuldigen“ am Ernst Deutsch Theater: Der Abend bleibt sehr konventionell

In das beschauliche Hotel-Leben kommt Bewegung, als mit Alcest (Rune Jürgensen) eine alte Liebe von Sophie auftaucht und ihr Gefühlsleben erneut zu verwirren weiß. Ein nächtliches Treffen, in das sie schließlich einwilligt, wird zum entlarvenden Moment: Die in der Tiefe ihres Herzens Tugendhafte überkommen Skrupel, sie flieht das Zimmer – obwohl sie starke Gefühle für Alcest hat. Zuvor hat der neugierig schnüffelnde Wirt dort einen „Wachsstock“ (eine Kerze mit Halter) vergessen. Und der grotesk mit schwarzem Umfang und zweifarbigen Dandy-Schuhen aufgemachte Söller stiehlt Geld des vermeintlichen Nebenbuhlers.

Es kommen also jede Menge menschlicher Schwächen auf die Bühne: Treue und heimliche Sehnsüchte, Gier nach dem Geld der Anderen. Altmeister Sprenger setzt in seiner Inszenierung ganz auf den volkstümlich-derben Charakter des Stoffes und doch bleibt der Abend sehr konventionell. Beachtlich kämpft sich das tapfere Schauspielensemble durch den Text im originalen Versmaß. Das ist nicht ohne altmodischen Charme, versprüht einen Hauch Nostalgie, wozu auch die eleganten Retro-Kostüme, ebenfalls von Achim Römer, beitragen.

„Die Mitschuldigen“ in Hamburg: Geschehen ist vorhersehbar

Und doch ist die Fallhöhe eher gering, das Geschehen vorhersehbar. Der theatrale Zugriff wirkt trotz des hoch gehaltenen Tempos etwas antiquiert. Dass die Schauspielerinnen und Schauspieler – aus denen Ines Nieri als Sophie mit ihrer gut geölten Lebhaftigkeit und Präzision herausragt – zum Teil übertrieben chargieren und dabei im direkten Wechselspiel häufig das Publikum ansprechen, macht es obendrein etwas mühsam.

Der junge Goethe mag hier Erlebnisse schildern, die ihn in der Universitätsstadt Leipzig, wohin er sich zum Jurastudium begab, umtrieben. Damals soll er mit einer Wirtshaus-Tochter eine zweijährige Beziehung unterhalten haben, die er in dem Text verarbeitete. Obwohl eine Komödie, ist dieses Lustspiel eher an der Commedia dell‘Arte orientiert, was auch die eher stereotyp skizzierten Figuren erklärt. Im Kontrast dazu steht das strenge Versmaß des so genannten heroischen Alexandriners. Er macht aus dem Text ein merkwürdiges Zwitterwesen. Das Geschehen ist geprägt von ungestümem Gefühl, Aufbrausen, Herumpoltern, Hemmungslosigkeit.

Als es um das verschwundene Geld geht, und erst Vater und Tochter sich gegenseitig beschuldigen, fliegen gar Stühle. Sophie immerhin setzt ob der falschen Diebstahl-Verdächtigung zu einer selbstbewussten Wutrede gegenüber Alcest an, die sich gewaschen hat. Sie ist letztlich diejenige, die sich hier gegen die Anfeindungen und Intrigen behauptet.

„Die Mitschuldigen“ weitere Vorstellungen bis 5.11., Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1, Karten unter T. 22 70 14 20; www.ernst-deutsch-theater.de