Hamburg. „Im Westen nichts Neues“ geht als deutscher Kandidat ins Oscar-Rennen – und sollte unbedingt auf der großen Leinwand geschaut werden.
Es ist natürlich Zufall, denn dieser Film wurde schon vor mehr als einem Jahr gedreht. Da konnte man noch nichts ahnen von einem Angriffskrieg auf die Ukraine. Und doch ist die Neuverfilmung von „Im Westen nichts Neues“ nun der Antikriegsfilm zur Stunde. Zeigt er doch einmal mehr, wie junge Männer in einen Krieg geschickt werden, der als heroisch und patriotisch gepriesen wird, bei dem an der Front dann aber nur Gewalt, Inferno und das große Sterben warten.
Kino Hamburg: Netflix verfilmt berühmten Antikriegsroman
Erich Maria Remarques 1928 geschriebener Roman, in dem er die Traumata des Ersten Weltkriegs verarbeitete, wurde bald als „pazifistische Kriegsanklage“ gefeiert. Und gilt noch heute nicht nur als einer der berühmtesten Romane der deutschen Literaturgeschichte, sondern als der Antikriegsroman schlechthin. Und als allgemeingültige Metapher auf den Irrsinn des Kriegs, ganz gleich, an welcher Front. Die Nazis haben das Buch seinerzeit verbrannt, doch gegen seine Wirkmacht kamen sie nicht an. Und die neue Netflix-Verfilmung wirkt nun wie ein klarer Kontrapunkt zu Putins derzeitiger Kriegspropaganda und Mobilmachung.
Seltsam genug: Der Roman wurde schon zweimal verfilmt, aber beide Male in den USA. Das erste Mal 1930, nur ein Jahr nach der Buchveröffentlichung, seinerzeit mit dem Oscar für den Besten Film ausgezeichnet, und 1979 als Fernsehadaption, die den Golden Globe als beste TV-Produktion erhielt. Aber noch nie wurde der Roman in seinem Herkunftsland in Szene gesetzt. Erst jetzt, 94 Jahre danach, hat sich Edward Berger daran gewagt. Der Regisseur („Deutschland ‘86“) wollte „zuallererst einen Film machen, der nicht didaktisch und nicht sentimental ist“, wie er betont, aber auch „die deutsche Perspektive einnehmen, die es im modernen Kriegsfilm eigentlich überhaupt nicht mehr gibt“: weil unser Blick auf den Krieg „von Gram und Scham geprägt“ ist.
Die blutige Uniform wird gewaschen, dann trägt sie der nächste Soldat
Sein Film beginnt ganz ohne Vorgeplänkel brutalstmöglich. Und zeigt die Maschinerie des Krieges, wie man sie so bisher kaum gesehen hat. Gleich anfangs muss sich da ein junger Soldat aus dem Schützengraben in die MG-Salven des Gegners werfen. Neben ihm fallen seine Kameraden, schließlich stirbt er selbst. Bevor er anonym beerdigt wird, wird ihm die Uniform ausgezogen. Und die wird vom Blut gewaschen, geflickt und wiederaufbereitet. Für den nächsten Einsatz.
Erst hier beginnt die Geschichte von Remarques Gymnasiasten Paul Bäumer. Der wird wie seine Kameraden von seinem Lehrer aufgepeitscht, obwohl der es 1917, im dritten Kriegsjahr, schon besser wissen muss. Dieser Paul Bäumer bekommt nun die Uniform des Toten, findet aber dessen Namensschild darin. „Die gehört schon wem“, sagt er naiv. „War die wohl zu klein für den Kerl. Kommt immer wieder vor“, kontert der Militär zynisch, reißt das Namensschild heraus und lässt es zu Boden fallen. Da sind gerade mal fünf Minuten vergangen. Und das Buch ist schon auf den Punkt gebracht.
Kino Hamburg: Die Darstellung des Krieges nur schwer zu ertragen
Was folgt, ist eine einzige Desillusionierung. Noch frotzeln Paul und seine Kameraden, dass sie den Franzosen die Hammelbeine langziehen. Doch schon der Lastwagen, mit dem sie zur Front gekarrt werden, wird konfisziert, weil Verwundete ihn dringender brauchen. Sie müssen zu Fuß weiter, werden noch vor der ersten Feindberührung von einer Explosion verschüttet und dann wieder und wieder in die Schlacht getrieben. Bis kaum noch ein Kamerad übrig ist, aber schon die nächsten jungen Männer nachrücken.
Berger und sein Kameramann James Friend bannen das in Bilder, die sich einprägen, ja sich einfressen ins Gehirn. Krieg als immersives Erlebnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Das ist oft nur schwer zu ertragen, etwa wenn Leiber von Granaten zerrissen werden oder ein lebender Mensch von einem Panzer überrollt wird. Und man möchte nicht nur wegschauen, sondern auch weghören. Denn der Soundtrack ist ein einziger Klangteppich aus Salven metallischer Beats, die sich in die Magengrube fressen.
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Das Grauen kriegt dabei ein Gesicht: das des jungen Felix Kammerer. Zahllose Stars spielen in diesem Film, allen voran der wie immer großartige Albrecht Schuch als väterlicher Freund Katczinsky. Aber es ist dieser Nachwuchsschauspieler, der bislang nur Theater gespielt hat, der im Fokus steht und diesen Film trägt. Eine Entdeckung und Offenbarung. Mit seinem durchdringenden Blick, der auch dann noch zu sehen ist, wenn sich der Rest von ihm unter Blut und Schlamm schon nicht mehr erkennen lässt. Seine Todesangst und Verzweiflung überträgt sich direkt auf den Zuschauer.
Kino Hamburg: 100 Jahre danach wird der Erste Weltkrieg filmisch aufgearbeitet
Während Remarque in seinem Roman immer ganz bei seinem fiktiven Alter Ego, dem einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld, blieb, zeigt Berger auch andere Seiten des Krieges. Aber nicht als Verschnaufpause, sondern als weiteren Horror: Wie der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger (gespielt von Daniel Brühl, der den Film auch mitproduziert hat) im November 1918 mit den Franzosen ein Waffenstillstandsabkommen aushandelt, was ein reaktionärer General (Devid Striesow) noch in letzter Minute mit einer Großoffensive verhindern will. Diese Dramaturgie widerspricht zwar dem Roman (und seinem Titel), der mit einem Tod endet, der so unwichtig ist, dass er in keinem Heeresbericht erwähnt wird. Damit gelingt aber ein umso wirkungsvollerer Appell gegen den Krieg.
100 Jahre nach seinem Ende wird der Erste Weltkrieg auch filmisch wieder aufgearbeitet. Erst mit Peter Jacksons 3D-Dokumentation „They Shall Not Grow Old” (2018), dann mit Sam Mendes’ Odyssee durch die Apokalypse „1917” (2019). Mit der Remarque-Neuverfilmung gibt es nun endlich auch einen überzeugenden, packenden Beitrag aus dem Land, das diesen und noch einen zweiten Weltkrieg entfacht hat. Wundern muss man sich nur, dass keine große Filmproduktionsfirma sich daran gewagt hat, sondern der Streamingdienst Netflix. Dort läuft der Film nach seinem Kinostart an diesem Donnerstag dann ab dem 28. Oktober. Er sollte unbedingt im Kino gesehen werden, weil er Bilder hat, die die große Leinwand brauchen.
Kino Hamburg: Antikriegsfilms geht als deutscher Oscar-Kandidat ins Rennen
Diese und die zutiefst humane, pazifistische Grundhaltung des Films haben die unabhängige Findungskommission überzeugt, „Im Westen nichts Neues“ als deutschen Kandidaten ins Oscar-Rennen zu schicken. Bergers Film setzte sich dabei gegen acht Konkurrenten wie Andreas Dresens Guantanamo-Drama „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ durch. Es ist das erste Mal, dass hier eine Streamingproduktion den deutschen Film repräsentiert. Aber gerade in diesen schweren Tagen von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ist diese Wahl ein klares und starkes Statement.
„Im Westen nichts Neues“ 148 Minuten, ab 16 Jahren, läuft im Elbe, Koralle