Hamburg. Mit „Wicked – die Hexen von Oz“ wagt Stage einen herrlich durchgeknallten Neustart – das Stück aber krankt an einigen Punkten.
Herrje, das brennt in den Augen: Goldglitzernde Kleidchen und neonbunte, an „Metropolis“ erinnernde Großstadtfassaden strahlen um die Wette auf der Bühne der Neuen Flora. An den kunterbunten Augenkandiszucker müssen sich die Sinne erstmal gewöhnen nach 18 Monaten ohne Musicals. Die Premiere von „Wicked – Die Hexen von Oz“ ist ein ganz schöner Ritt, nachdem das Theater eine sehr lange Zeit besenrein vor sich hin gedämmert hatte.
Da ist die eigentliche Nachricht von den Vorpremieren und der von viel Prominenz begleiteten Gala-Aufführung am Sonntag: Es geht wieder los. „Wir haben diesen Tag über Wochen und Monate herbeigesehnt. Endlich wieder Musical. Endlich wieder Live-Shows“, freut sich Stage-Entertainment-Chefin Uschi Neuss. Statt Kurzarbeit und Entlassungen sind jetzt zumindest halb volle Häuser und volle Spielpläne die Perspektive des von der Corona-Krise gebeutelten Branchengiganten.
Viele Musical-Neustarts in Hamburg stehen bevor
Am 2. und 8. Oktober gehen „König der Löwen“ und „Tina“ wieder los; am 7. November zieht Disneys „Die Eiskönigin“ in das Stage-Theater an der Elbe. „Hamilton“ wurde allerdings von November 2021 auf Herbst 2022 verschoben.
Die Ensembles haben sich fit gehalten zwischen Test- und Impfmarathons, auch für das Publikum wurden immer neue Hygienekonzepte entwickelt. 900 Zuschauerinnen und Zuschauer dürfen in den Saal mit 1850 Plätzen, es gelten die 3G-Regeln, die am Eingang penibel kontrolliert werden. Und die Masken müssen vom Publikum während der kompletten Vorstellung getragen werden. Das geht bis zur ersten Pause nach 90 Minuten schon in die Knochen in der trockenen Luft der Neuen Flora.
Wicked in Hamburg: Oz würde guten David Hasselhoff abgeben
Verrückt hätte man das 2019 noch genannt, aber in einem Jahr, in dem ABBA zurückkehrt und sich die Elbphilharmonie in ein Impfzentrum verwandelt, sind die pandemischen Umstände schon fast normal. Im Lande Oz beginnt der Alltag an der Universität Glizz, wo sich auch die magisch mehr oder weniger begabten Mädchen Elphaba (Vajèn van den Bosch) und Glinda (Jeannine Wecker) kennenlernen – und ad hoc nicht ausstehen können.
Die Sympathien werden am Anfang klar verteilt. Alle, vom hübschen und stylischen Fiyero (Naidjim Severina) bis zum biederen Moq (Jan Rogler) stehen auf die blonde, einem Cheerleader-Jahrbuch entsprungene Glinda. Für die spießige, von den hässlichsten Schuhen der Musicalgeschichte entstellte Elphaba und ihre grüne Hautfarbe haben alle nur Hohn und Spott übrig.
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Aber nicht nur an der Hochschule, auch im ganzen Land Oz wird nach Herkunft und Art brutal getrennt. Sprechende Tiere wie der Lehrer-Ziegenbock Dr. Dillamonth (Gianni Meurer) verschwinden nach und nach. Dahinter steckt der magieunbegabte Zauberer von Oz (Andreas Lichtenberger), der seine Macht mit geschickter Propaganda sichert. Als Entertainer würde er einen tollen David Hasselhoff abgeben.
Die Mär vom hässlichen Entlein ist wirklich auserzählt
Wer hier „Wicked“, die wahre „Bösigkeit“ ist, wird immer wieder neu verhandelt, besetzt, erstritten und besungen, während Elphaba und Glinda den schlimmen Geheimnissen von Oz auf den Grund gehen und sich dabei anfreunden. Am Ende muss aber eine die Böse bleiben, um sich für alle zu opfern.
Diese von Autor Gregory Maguire erdachte Vorgeschichte des Musical-Klassikers „Der Zauberer von Oz“ (1939) wurde von Stephen Schwartz 2003 auf dem Broadway präsentiert und auch von Stage in Deutschland bereits von 2007 an in Stuttgart und Oberhausen gezeigt. Für Hamburg wurde das Stück technisch und textlich modernisiert, krankt aber an den alten Schwächen, um eine große Reichweite zu gewinnen. Der uramerikanische Konflikt zwischen dem naiven, hübschen Blondchen und dem eigentlich auch hübschen, aber auf hässlich geschminkten Entlein ist so langsam wirklich auserzählt.
Und den Höhepunkt der Show, das Lied „Frei und schwerelos“ mit dem spektakulären Flug von Elphaba über das Publikum hinweg, erlebt man bereits vor der Pause. Die Musik, die in der Neuen Flora durch die Übersetzung eher an die Klaus-Lage-Band erinnert, kann nicht mit den Welthits in den firmeninternen Konkurrenz-Musicals „Tina“ und „Die Eiskönigin“ mithalten.
"Wicked"-Musical: Spaß macht die entfesselte Spielfreude
Auf den ersten Blick völlig durchgeknallt und offenbar nach dem Genuss von Zauberpilzen entwickelt, ist „Wicked“ im Kern eine ziemlich altbackene Mischung aus „Grease“, „Harry Potter“ und „High School Musical“, daran ändert auch das gewitzte Bühnenbild mit transparenten Vorhängen, Lichterzauber und Hebe-Effekten nichts. Den meisten Spaß macht es, dem Cast zuzusehen, der vor entfesselter Spielfreude – allen voran Glinda – kaum zu bremsen ist. Bravo!
Lindsay Posner (Regie), Fabian Aloise (Choreografie) und Jon Bausor (Bühnenbild) haben so das Maximale aus der gewöhnlichen Vorlage herausgeholt: Ein nettes Gebrauchsmusical für Genrefans und Touristen, die an einem Regentag zwischen Hafenrundfahrt und Reeperbahn-Bummel noch nichts vorhaben. „Wicked“ läuft bis zum 24. April .
„Wicked“ bis 24.4., Stage Theater Neue Flora, Tickets unter www.stage-entertainment.de