New York. Bald auch in Hamburg: US-Geschichte erzählt mit Hip-Hop? Und ob! Über einen explodierenden Erfolg.

Gut 1300 Menschen sitzen in der plüschigen Enge des Richard Rodgers Theatre an der 46. Straße in New York. Und jubeln wie wild. Doch auf der Bühne steht weder Bruce Springsteen noch Beyoncé. Sondern: Alexander Hamilton – einer der weniger bekannten Gründerväter der Vereinigten Staaten, an diesem Abend mit Verve verkörpert von dem Musicaldarsteller Miguel Cervantes.

Der Autor, Sänger, Rapper, Schauspieler und Filmemacher Lin-Manuel Miranda hat den Staatsmann mit seiner Musical-Adaption „Hamilton“ zum Popstar gemacht. Und ist in den USA selbst längst einer. Sein Vermögen wird auf 80 Millionen Dollar geschätzt. Für viele hat der gebürtige New Yorker mit den puerto-ricanischen Wurzeln nicht weniger als den Broadway revolutioniert.

Erfolgsmusical "Hamilton" bald auch in Hamburg

Lange vor einem Serien-Phänomen wie „Bridgerton“ besetzte er das Ensemble äußerst divers. George Washington, gespielt von einem Schwarzen – warum nicht? US-Geschichte, erzählt mit Hip-Hop – läuft hervorragend! Zumindest am Broadway, wo „Hamilton“ 2015 Premiere feierte – nachdem das kleine Public Theatre downtown schnell zu klein geworden war für den explodierenden Erfolg dieser Show.

Im Herbst nun bringt die Stage Entertainment das Musical ins Hamburger Operettenhaus. Ins Deutsche übersetzt. Die erste fremdsprachige Adaption nach englischsprachigen Aufführungen in den USA, in Puerto Rico, Australien und am Londoner West End. Kann das funktionieren?

Story der Superlative

In den USA ist „Hamilton“ eine Story der Superlative (siehe Kasten). Und schreibt längst selbst Geschichte. Miranda präsentierte erste Songs des Stücks 2009 im Weißen Haus – und die Obamas wurden zu seinen größten Fans. 2015 wiederum wurde verkündet, dass Hamiltons Konterfei auf der Zehn-Dollar-Note von einem Frauenporträt abgelöst werden soll. Aufgrund der immensen Popularität der Show sah das Finanzministerium jedoch von dem neuen Design ab.

All diese Legendenbildung, all diese Meilensteine – werden sie das deutsche Publikum interessieren? Wird das Phänomen „Hamilton“ auch hierzulande zünden? Werden sich Menschen in Wanne-Eickel oder Schweinfurt in einen Bus setzen, um an der Elbe drei Stunden gerappte US-Historie zu erleben?

Musical-Schöpfer Lin-Manuel Miranda (M.) sitzt zwischen Jeffrey Seller (l.) und Thomas Kail (r.), dem Produzenten und und dem Regisseur der US-Show, bei einer Pressekonferenz im Drama Book Shop in New York.
Pressereise New York Musical Hamilton HAMILTON Musical-Schöpfer Lin-Manuel Miranda (M.) sitzt zwischen Jeffrey Seller (l.) und Thomas Kail (r.), dem Produzenten und und dem Regisseur der US-Show, bei einer Pressekonferenz im Drama Book Shop in New York. © Stage Entertainment | Stage Entertainment

Für die Hamburger Stage Entertainment ist der Transfer des Stücks vom Mutterland des Hip-Hop in das – vorsichtig formuliert – weniger sprechgesangsaffine Deutschland durchaus ein finanzielles Risiko. Die Hamburger Produktion wird circa zwölf Millionen Euro kosten. Doch das Team setzt ganz auf die Wirkmacht der Musik, der Worte, der Inszenierung.

„,Hamilton‘ ist für das Genre so neu und wichtig, dass wir das dem deutschen Publikum unbedingt zeigen möchten. Eine Art Gesamtkunstwerk“, erklärt Simone Linhof, die als Produzentin bei der Stage Entertainment unter anderem für das Casting zuständig ist. Wer mit ihr spricht, spürt einen starken positiven Willen, mit dem Stück auch in Deutschland begeistern zu wollen. Im Drama Book Shop, mitten im Herzen Manhattans, gibt Linhof ein Interview nach dem anderen. Das Richard Rodgers Theatre ist nur wenige Gehminuten entfernt. Ebenso wie der Times Square, wo sich nach der langen Corona-Durststrecke wieder verstärkt internationale Touristen tummeln, vor den blinkenden Reklametafeln posieren und an der rot leuchtenden Ticket-Box vergünstigte Broadway-Karten für den Abend ergattern wollen. 18 Monate waren die Broadway-Theater während der Pandemie geschlossen. Jetzt läuft „Hamilton“ wieder achtmal die Woche.

Musical rettet Buchladen

Die gewaltigen Einnahmen, die die Show von Anfang an erzielte, retteten auch den Buchladen, in dem das deutsche und US-amerikanische Team an diesem regnerischen New Yorker Nachmittag über das große Projekt „Germany“ spricht. Lin-Manuel Miranda, ein charismatischer Typ in Turnschuhen, sitzt unter einer wuchtigen Decken-Installation fliegender Bücher. Gemeinsam mit „Hamilton“-Regisseur Thomas Kail, Produzent Jeffrey Seller und Broadway-Impresario James L. Nederlander kaufte er den von der Schließung bedrohten Drama Book Shop, der seit 1917 eine Institution für die Theater-Community ist.

 Im Frühjahr 2021 eröffnete das Quartett den Buchladen an neuer Adresse. Am selben Tag übrigens wie der Filmstart von „In The Heights“, Mirandas erstem Musicalerfolg, in dem er sein Aufwachsen in der dominikanisch-amerikanisch geprägten Nachbarschaft Washington Heights verarbeitet. Anekdote reiht sich an Anekdote und alles hängt mit allem zusammen, wenn es um Lin-Manuel Miranda geht. Doch letztlich liegt sein Fokus immer darauf, eine gute Story zu erzählen. Auch und vor allem bei „Hamilton“.

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„Was interessant ist an der Show: Über das Spezifische hinaus, dass da die Geburt der USA erzählt wird, geht es vor allem darum, was wir mit unserer Zeit auf dieser Erde machen“, sagt Lin-Manuel Miranda. Tiefgestapelt wird also nicht. Aber tatsächlich rührt die hochtourige Energie des Musicals an ganz grundsätzliche Emotionen und Gedanken: Liebe und Hass, Verrat und Verlust, Konkurrenz und Machtstreben, aber auch viel Zweifel und Abwägen.

„Wir glauben an die Geschichte vom Underdog. Von jemandem, der sich hocharbeitet. Der durch seine Genialität, durch seine Art zu schreiben und zu denken, wirklich etwas erreicht und verändern kann“, erklärt Simone Linhof – und meint damit wohlgemerkt den historischen Hamilton, nicht Musical-Mastermind Miranda.

Hamburger Produktion kostet zwölf Millionen Euro

Für Linhof ist das Projekt „Hamilton“ auch ein Versuch, neue Zielgruppen zu erschließen. Zu den Interviews in New York sind nicht nur klassische Journalisten geladen, sondern auch YouTuber und Podcaster aus der deutschen Hip-Hop-Szene sowie Kreative, die Inhalte für Plattformen wie Instagram und TikTok produzieren. Die Medienwelt ändert sich ebenso wie das Showgeschäft. „Ich habe mit Leuten geredet, die waren noch nie in einem Musical, weil das einfach nicht auf deren Radar war. Jetzt sind sie total geplättet“, sagt Linhof durchaus mit Stolz in der Stimme.

Die Rollen zu besetzen sei eine „absolute Herausforderung“ gewesen. Im US-Original schnellen aufgrund der gerappten Passagen im Schnitt 144 Worte pro Minute auf das Publikum ein. Eine verbalakrobatische Leistung, die auf den Punkt im Takt zu sein hat mit der impulsiven Choreografie – und daher nicht standardmäßig abrufbar ist.

Darstellersuche auch in Rapgemeinden

„Der allgemeine Musicaldarsteller hat bei diesem Stück nicht unbedingt gepasst. Wir mussten auch in anderen Ecken suchen, zum Beispiel in der Rap-Gemeinde. Die lesen natürlich nicht unsere Stellenanzeigen“, sagt Linhof und lacht. Nach eingehender Recherche hätten sie nun eine „schöne und spannende Mischung“ an Leuten versammelt, die ganz unterschiedliche Backgrounds besitzen – von Musical über Pop und R ’n’ B bis hin zu Swing. Entsprechend der musikalischen Bandbreite, die das Musical jenseits von Hip-Hop zu bieten hat.

Linhofs US-Kollege, „Hamilton“-Produzent Jeffrey Seller, sieht Hamburg als besonders geeigneten Ort, um den erzählerisch wie stilistisch komplexen „Hamilton“-Mix auf die Bühne zu bringen. Nicht nur, weil Hamburg nach New York und London weltweit Musical-Standort Nummer drei ist. Sondern auch wegen der Atmosphäre, die ein gewisses Konzerthaus an der Elbe schafft. „Als ich im Herbst 2018 nach Hamburg kam, habe ich als Erstes die neue ,Symphony Hall‘ besucht“, sagt Seller – und meint natürlich die Elbphilharmonie. „Das ist ein architektonisches Juwel und ein akustisches Wunder.“ Er wollte den Enthusiasmus erleben, den die Hamburger Bevölkerung für Livemusik habe, erzählt der Produzent im Drama Book Shop. „Hamburg ist eine Stadt, die sowohl Geschichte wertschätzt als auch gegenwärtiges kulturelles Leben.“ Kein ganz schlechtes Pflaster also für diesen Alexander Hamilton.

„Hamilton“, Previews ab 24. September, reguläre Aufführungen ab 6. Oktober, Stage Operettenhaus, Spielbudenplatz 1, Tickets ab 55,90 unter www.stage-entertainment.de Die Reise nach New York wurde durch die Stage Entertainment unterstützt.