Hamburg. Die Verfilmung der Reemtsma-Entführung eröffnet das Filmfest. Der Regisseur hat mit allen damals Beteiligten gesprochen.

Jan Philipp Reemtsma neben seinem bewaffneten Entführer, mit der „Bild“-Zeitung als Lebensbeweis in den Händen. Vielleicht ist dies das ikonische Bild, das die kollektive Erinnerung an eines der spektakulärsten Verbrechen der Bundesrepublik zusammenfasst, die Reemtsma-Entführung im Frühjahr 1996. Das Opfer selbst, der Hamburger Publizist und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, hat mit „Im Keller“ bereits neun Monate nach der Tat eine Verarbeitung in Buchform vorgelegt. Aber die Geschichte war damit nicht abgeschlossen, und sie hat weitere Perspektiven, es gibt mehr Beteiligte, weitere Traumata: zuerst natürlich die Angehörigen, Reemtsmas Frau Ann Kathrin Scheerer und der damals erst 13 Jahre alte Sohn Johann. Erst vor wenigen Jahren hat auch Johann Scheerer ein eindringliches autobiografisches Buch über sein Erleben der Entführung geschrieben, über 33 Tage Warten und Ungewissheit. Der Drehbuchautor und Filmregisseur Hans-Christian Schmid („Crazy“, „Lichter“) hat dieses Buch nun für die Kinoleinwand adaptiert. Es ist ein stiller, ein genauer Film geworden, zugewandt, aber zugleich ungeschönt. Heute eröffnet „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ das Filmfest Hamburg.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ ist nicht nur eine Buchverfilmung, es ist auch die Verfilmung einer tatsächlichen Begebenheit, deren Akteure alle noch am Leben sind. Welchen Unterschied macht das für Ihre Arbeit?

Hans-Christian Schmid: Ich hatte das Gefühl, noch deutlicher in der Verantwortung zu stehen gegenüber den Lebenden. Es ging nicht nur darum, Johann Scheerers Buch gerecht zu werden und einen spannenden Film mit Tiefgang im Kino zu erzählen, sondern auch diesen Menschen gerecht zu werden.

Für Schauspieler kann die Begegnung mit realen Rollenvorbildern einschüchternd sein – wie ist das für Sie als Regisseur und Drehbuchautor?

Schmid: Eingeschüchtert war ich nicht. Das lag an der großen Offenheit, mit der uns Johann Scheerer und auch seine Mutter gegenüber getreten sind. Sie haben uns von Beginn an gesagt: Wir wollen, dass ihr etwas Eigenständiges schafft, dass ihr interpretiert, wie ihr diese Geschichte empfindet. Da ging es nie darum, ob jemand einen Satz genau so oder eben nicht genau so gesagt hat. Oder ob jemand in der Besetzung dem realen Vorbild ähnlich sieht oder nicht. Es ging um psychologische Stimmigkeit, die war beiden wichtig. Wir waren immerhin die ersten außerhalb der Familie, die diese Geschichte erzählt haben. Jan Philipp Reemtsma hat sein Buch „Im Keller“ geschrieben, Johann hat sein Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ geschrieben. Aber nachdem Johann die Entscheidung gefällt hatte, uns sein Vertrauen zu schenken, konnte er gut loslassen. Das war sehr komfortabel.

Es gab offenbar mehrere Angebote, sein Buch zu verfilmen. Hat er Ihnen gesagt, warum er sich für Sie entschieden hat?

Schmid: Ja, wir haben mal darüber gesprochen. Wir haben sehr früh gesagt, dass wir uns auf die Suche machen wollen und sensibel in der Umsetzung sein wollen. Wir hatten kein fertiges Papier, kein „So wirds gemacht“. Und es war von Anfang an klar, dass wir nicht die Perspektive wechseln und in den Keller schneiden würden, dass wir diesen Teil der Geschichte, die des entführten Vaters selbst, aussparen würden, ebenso wie den Moment der Überwältigung. Wir wollten uns aufs Allernötigste beschränken.

Sie brauchen in den Geschichten, die Sie im Kino erzählen, immer einen Bezugspunkt zur eigenen Biografie, haben Sie einmal gesagt. Welcher war es hier?

Schmid: Die Erinnerung an das historische Ereignis war bei mir gar nicht so ausgeprägt, weil ich im März 1996 zu einem Drehbuchstudium in Los Angeles war. Die Entführung habe ich da nur am Rande mitbekommen. Mein persönlicher Bezug ist indirekt: In unserer Familie wurde nie jemand entführt, aber ich habe früh einen Elternteil verloren. Die große Verlustangst, die Johann empfunden haben muss, ist mir also vertraut. Auch deshalb war es für uns naheliegend, diese Geschichte einer Entführung nicht im Format True Crime zu erzählen, sondern als das Drama einer Familie im Ausnahmezustand. Der Schwerpunkt liegt auf dem Beziehungsdreieck zwischen Mutter, Sohn und abwesendem Vater.

Sie haben das Drehbuch von Johann Scheerer, seiner Mutter und den anderen Beteiligten gegenlesen lassen. Wie kompliziert war das? Gab es dadurch besonders viele Drehbuch-Fassungen?

Schmid: Nein. Es gab nur viele, intensive Gespräche im Vorfeld. Johann Scheerer hat uns die Kontakte zu den damals im Haus Beteiligten vermittelt, zum Anwalt der Familie zum Beispiel und zu den Angehörigenbetreuern der Polizei. Sie können sich vorstellen, dass sich nach 25 Jahren alle unterschiedlich erinnert haben. Sechs Personen im Haus, sechs unterschiedliche Erinnerungen, wie das alles abgelaufen ist. Aber es bestand niemand auf seiner Version. Niemand hat gesagt: Ich weiß genau, wie es war und die anderen täuschen sich. Wir haben versucht, während der Stoffentwicklung alle Beteiligten mit auf diese Reise zu nehmen. Sie haben erzählt, uns zugehört und mit uns an der Geschichte gearbeitet. Ich glaube, das war auch deshalb so, weil sie alle den Wunsch von Johann, dass aus seinem Buch ein Film werden sollte, unterstützen wollten.

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  • Im Film wird sehr deutlich, dass Jan Philipp Reemtsma im Grunde nicht wegen der Polizeitaktik, sondern trotz der Ermittlungen gerettet wurde. Die damals beteiligten Polizisten, die im Film nicht in jeder Situation gut wegkommen, waren auch einverstanden mit dem Drehbuch?

    Schmid: Auch die beiden Angehörigenbetreuer haben uns in der Stoffentwicklung begleitet. Was die Polizei angeht, trenne ich zwischen der Aufgabe der Betreuer im Haus, und dem Vorgehen der Einsatzleitung. Ich würde es so formulieren: Die Betreuer im Haus, die auf das Vertrauen der Angehörigen angewiesen sind, hatten des Öfteren große Probleme, taktische Entscheidungen der Polizeiführung zu vermitteln.

    Der damalige Einsatzleiter wird von Fabian Hinrichs gespielt...

    Schmid: Ja, auch mit diesem Einsatzleiter haben wir gesprochen. Er sieht seine damalige Rolle anders als wir, hat uns aber nicht vorgeworfen, das Drehbuch verdrehe die Fakten, sondern gehe zu wenig auf die Motivation für das Handeln seiner Figur ein. Da es uns nicht um Kritik an seiner Person ging, haben wir seinen Namen im Film geändert. Dass die Polizei damals die Täter fassen wollte, ist mir klar. Die Beamten unterliegen dem Strafverfolgungsauftrag, persönlicher Ehrgeiz kommt vielleicht auch dazu. Wie dies aber umgesetzt und den Angehörigen vermittelt beziehungsweise verborgen wurde, dafür habe ich wenig Verständnis.

    Schuld spielt im Film auch an anderer Stelle eine Rolle, nicht nur im Agieren der Polizei. Auch die Figur, die Justus von Dohnányi spielt, ist hochspannend: Er ist der Freund der Familie, der mit den Tätern kommuniziert. Dabei macht er Fehler, ist vielleicht auch zu überheblich. Sie zeigen Grenzen auf, an die Menschen in solchen Extremsituationen stoßen.

    Schmid: Ich rechne es allen Beteiligten hoch an, dass sie unser Projekt unterstützt haben, obwohl es kaum Lorbeeren zu verdienen gab. Ich erinnere mich an einen Satz, den Johann Schwenn – das ist der Anwalt, den Justus von Dohnányi spielt – zu mir gesagt hat: „Da steckt für niemanden eine Heldengeschichte drin – außer vielleicht für Ann Kathrin Scheerer.“ Trotzdem hat er zugestimmt, uns zu treffen. Seine Figur ist im Film namentlich genannt. Ich glaube, es war damals eine Situation, die alle extrem überfordert hat. Zu Beginn gingen alle davon aus, dass die Entführung nur fünf, sechs Tage dauern würde. Am Ende waren alle über einen Monat zusammen im Haus, in dieser Notgemeinschaft. Das ging über die Grenzen der eigenen Kraft hinaus.

    Hatten Sie bei allen Beteiligten – auch jenen außerhalb der Familie – den Eindruck, dass diese Entführung ein Ereignis war, das sie weiter im Leben begleitet hat? Womöglich sogar geprägt hat?

    Schmid: Ja, sehr stark. Das war in den Gesprächen zu spüren. Für alle Menschen im Haus war es traumatisch, was da passiert ist. Sie haben bis heute damit zu tun. Vielleicht nicht in dem Sinne, dass sie im Alltag damit zu kämpfen hätten, aber in dem Moment, in dem sie anfangen darüber nachzudenken und darüber zu sprechen, ist alles sofort wieder da. Auch nach 25 Jahren.

    Sie haben mitten in der Pandemie gedreht. Inwiefern hat das dem Kammerspielartigen dieses Films womöglich sogar genützt?

    Schmid: Man versucht ja immer, den Dingen einen Sinn zu geben. Das Ganze hatte tatsächlich auch etwas mit der Situation der Menschen zu tun, die im Film dargestellt werden. Auch sie waren ja gewissermaßen eingeschlossen in diesem Haus. Wir haben also versucht, die Lockdown-Erfahrung mit ins Spiel zu nehmen. Wir haben mitten in der Delta-Welle gedreht, niemand war geimpft, und ich hatte Sorge, den Schauspielern die Angst sich anzustecken anzusehen, sobald sie die Maske abnehmen. Und wenn ich sie spüren würde, so dachte ich, passt sie vielleicht zur Unsicherheit der Figuren im Haus. Eine Komödie hätte ich in dieser Zeit jedenfalls nicht gern gedreht.

    Das Filmfest Hamburg eröffnet an diesem Donnerstag mit „Wir sind dann wohl die Angehörigen“. Am Freitag um 17 Uhr läuft er noch einmal im Passage-Kino.Der Film startet regulär am 3.11. in den Hamburger Kinos. Am 4. November sind Hans-Christian Schmid, ein Teil der Cast und Johann Scheerer zu Gast im Zeise-Kino (19 Uhr) und im Abaton (20 Uhr)