Hamburg. Musik, Kunst und jede Menge Glitzer: Am Freitag ist in Wilhelmsburg das wohl vielfältigste Festival Hamburgs gestartet.

„Habt ihr Alkohol oder Drogen dabei?“, fragt eine Ordnerin bei der Einlasskontrolle zum „Dockville“-Festivalgelände. Nein, wir haben nichts dabei. Die Ordnerin schaut überrascht: „Warum nicht?“ Alles nur Spaß. Die Aussicht auf drei Tage Festival mitten in der Stadt mit 170 Bands und DJs auf einem Dutzend Bühnen macht ansteckend gute Laune nach zwei Jahren Sendepause. Auch wenn nicht alles so wie früher ist.

Das fängt schon bei der Organisation von der Anreise bis zum Zustand der Toiletten an, wo doch einiges an Wohlwollen aufgebracht werden muss, um nicht an die ersten, sehr amateurhaften Jahre des Festivals in Wilhelmsburg erinnert zu werden.

Dockville Festival Hamburg bekommt keinen Shuttle

Gestiegene Preise und Produktionskosten sowie Personalmangel sind dieses Jahr ein Problem für alle Festivals. So bekommt „Dockville“ diesmal tagsüber keinen Bus-Shuttle vom S-Bahnhof Wilhelmsburg zum Festival auf die Beine gestellt. Nur in den Nachtstunden pendelt ein Straßenfeger hin und her. Für die Anreisenden heißt das, gute zwei Stunden und mehr vom Hauptbahnhof bis zur Bändchenausgabe einzuplanen. Das Nadelöhr der S-Bahn über die Elbe, durch einen Brückenschaden auf nur eine alle 20 Minuten fahrende Bummelbahn beschränkt, ist die erste Hürde.

Anschließend kommt ein 30 Minuten langer Fußmarsch von der Haltestelle Wilhelmsburg zum Festival. Besonders für Camper mit Sack und Pack und einer auf zwei Schultern verteilten – sich mehr und mehr durchbiegenden – Palette Dosenbier ist das ein echter Canossa-Gang. Viele der täglich 20.000 ankommenden Festivalfans wählen das Fahrrad, in endlosen Kolonnen stehen und hängen die Drahtesel mehrreihig an den Bauzäunen.

Staub und Glitzerschminke sind die Kruste der Freude

Aber wer am Freitag ankommt, wird sofort mitgerissen in einen Strudel der sich entladenen Begeisterung. Wer gerade was auf der Bühne macht, scheint keine allzugroße Rolle zu spielen. Alles super. Die Londoner Rapperin Enny zum Beispiel liefert auf der „Vorschot“-Bühne ein doch sehr holpriges Set ab, wird aber gefeiert wie eine vom Olymp herabtänzelnde Göttin des Hip-Hop – die anschließend von ihrer Hamburger Kollegin Haiyti und ihren von Autotune-Effekten durch die Mangel genommenen Reimattacken abgelöst wird.

Schweiß, Staub und die bei „Dockville“ seit Jahren obligatorische Glitzerschminke vermengen sich in den lachenden Gesichtern zu einer Kruste der Freude. Die wird vielleicht kurz brüchig beim Anblick der Schlangen am Bio-WC oder an den kostenlosen Trinkwasserstationen, aber schon wartet die nächste Band, der nächste Beat.

AnnenMayKantereit reißt das Publikum mit

Wie eine Welle schwappen die Menschen über den Reiherstieg-Hauptdeich zur „Großschot“-Hauptbühne zu Provinz. Die Newcomer aus Schwaben wurden vom „Dockville“-Team bereits 2019 lange vor Erscheinen des ersten Albums „Wir bauten uns Amerika“ (2020) gebucht und haben ihren ersten Hype erfolgreich über die Pandemie gerettet.

Ihr Indie-Pop in der Schnittmenge der vom gleichen Produzenten betreuten – und ebenfalls beim Dockville spielenden – Kollegen AnnenMayKantereit und Faber reißt im Publikum auch die letzten Halteleinen los. „Du musst springen“, singt Frontmann Vincent Waizenegger, und diese Aufforderung wird bis in die letzte Reihe wörtlich genommen. Ebenso die Ansage „Macht mal Applaus dafür, dass ihr zwei Jahre gewartet habt“. Das hat sich gelohnt.

„Dockville“ versteht sich auch als Zukunftslabor

Hier hat das Festival-Booking wieder ein gutes Händchen bewiesen. Durch das im Vergleich zur Konkurrenz schmale Budget wird nicht geschaut, welcher Star noch zu bezahlen ist, sondern wer kurz vor dem Durchbruch stehen könnte wie Provinz oder die Berliner House-Produzentin Sofia Kourtesis, die auch einige Zeit in Hamburg lebte. So war 2019 mit Billie Eilish schon eine fertige Pop-Ikone in Wilhelmsburg zu erleben. Das sind Glücksfälle, mit denen natürlich nicht immer zu rechnen ist. Die australische Multiinstrumentalistin Tash Sultana, in ihrer Heimat bereits eine Gigantin, kann in Hamburg ihre Vorschusslorbeeren nicht halten. Ihre in Endlosschleifen geschickten „Loops“ aus E-Bass, Gitarre und Synthies sind zwar kunstfertig, aber nicht sehr dynamisch.

Aber Versuch macht klug. Das „Dockville“ versteht sich als maximal progressives Festival. Dazu gehört auch, dass die Hälfte des Programms aus Frauen beziehungsweise „weiblich gelesenen Acts“ besteht. Einige Toiletten sind getrennt nach „FLINTA*“ (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen) und Unisex. Das gastronomische Angebot ist überwiegend vegetarisch und vegan. Der klassische „Rock am Ring“-Saufi-Macker dürfte sich darüber ebenso wenig freuen wie über die Aufforderung an Männer mit freien Oberkörpern, ihre Brustwarzen doch bitte abzukleben – „um unterschiedlichsten Privilegien und Machtverhältnissen Rechnung zu tragen und einen möglichst gleichen Raum für alle zu schaffen.“

Dockville Festival Hamburg: 1990er-Jahre nicht ganz vorbei

Was individuelle Freiheit, Einschränkung oder Belästigung ist (bei 20.000 Feiernden auf einem Haufen fällt alles an), lässt sich an mehreren Anlaufstellen der „Awareness“-Teams klären. Achtsamkeit wird bei vielen Festivals immer wichtiger und auch das „Dockville“ ist ein Zukunftslabor, um seit dem Open-Air-Boom der 90er mitgeschleppte Probleme zu lösen. Das macht „Dockville“ und seine einzigartige Hafen-Industrie-Kulisse so besonders wie wichtig. Allerdings muss auch das kleine Einmaleins eines Festivals (Anreise, Müll, WCs) stimmen. Viele aktuelle Umstände machen einen Neustart schwierig und erfordern Geduld, ein dickes Fell und eine unempfindliche Nase.

Nelly lässt sich zu Beginn des Dockville Festivals von einer Künstlerin bemalen.
Nelly lässt sich zu Beginn des Dockville Festivals von einer Künstlerin bemalen. © Markus Scholz/dpa

Und so ganz sind auch die 1990er-Jahre wohl nicht vorbei. Nachts legen die DJs vom „Bad Ass Babes Club“ auf der „Butterland“-Bühne Spice Girls, Alanis Morissette und Wheatus auf. Die Menge, die zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Songs noch nicht geboren war, tobt bis es hell wird.