Hamburg. Die norddeutsche Musikerin war bei Stadionkonzerten der Band Coldplay im Vorprogramm zu erleben. Jetzt spielt sie beim Dockville.

Es gibt Wendepunkte, die das Leben auf ein anderes Level heben. Ereignisse, die im Nachhinein kaum zu fassen sind. „Das Ganze war absolut surreal. Ich frage mich immer noch, ob ich das nicht geträumt habe“, sagt Alli Neumann. Mit ihrer Band trat die norddeutsche Musikerin diesen Sommer im Vorprogramm von Coldplay auf. Vor Zehntausenden Menschen präsentierte sie ihre freigeistigen Songs zwischen Pop, Funk, Blues und Rock in den Stadien von Frankfurt und Berlin.

Und das mit einer unglaublich starken Energie. Es ist eine knallbunte Coolness, die Alli Neumann ausstrahlt. Breites Grinsen, große Gesten. Ein Tigern und Tanzen. Dass sie zugleich auch Schauspielerin ist, befördert diese Präsenz zusätzlich. Und dann ist da diese dunkle, leicht rauchige Stimme, mit der sie von Selbstbestimmung singt. Von einem gleichberechtigten Miteinander.

Alli Neumann überzeugte die Band Coldplay

Ein Mix, der offenbar auch Megapopstar Chris Martin und seine Band Coldplay überzeugte. „Als die Anfrage bei meiner Booking-Agentur eintraf, haben wir uns kurz gefragt, ob das eine Spam-Mail ist“, erzählt Alli Neumann beim Video-Interview. Gerade ist sie für ein paar Tage in Nordfriesland, wo sie hauptsächlich lebt, allerdings mit einer Couch-Option in ihrem zweiten Zuhause Hamburg.

Bevor die Musikerin diesen Sommer noch auf diversen Festivals spielt, unter anderem am 20. August auf dem Dockville in Wilhelmsburg, muss sie kurz alles sacken lassen. All die Nachrichten, die sie nach den Coldplay-Auftritten erhalten hat. All die Liebe, die ihr das Publikum entgegengebracht hat. Und vor allem all die Erfahrungen, auf einmal Shows für ihre eigenen Idole zu eröffnen.

„Ich bin mit Coldplay-Liedern aufgewachsen"

„Ich bin mit Coldplay-Liedern aufgewachsen und habe mit denen meinen Herzschmerz durchgemacht. Und dann begegne ich der Band und alle sind einfach unfassbar nett“, sagt Alli Neumann und strahlt. Wer mit der Künstlerin spricht, erlebt eine ungemein aufgeschlossene Person mit Herz und Haltung. Ihre ganze Vita scheint stets mitzuvibrieren.

Als Tochter eines Deutschen und einer Polin wuchs Alli Neumann die ersten sechs Jahre in der Heimat ihrer Mutter auf – in Rzeszów im Karpatenvorland nahe der ukrainischen Grenze, das sie vor Kurzem erst besuchte. „Durch Pandemie und Krieg konnte ich meine Familie länger nicht sehen. Es war richtig schön, wieder dort zu sein. Das ist ein Stück Heimat, das in mir weiterlebt“, erzählt die Sängerin, die auf ihren Konzerten gerne auch traditionelle polnische Lieder und solche aus der Solidarność-Zeit einbindet.

„Ich komme aus einem Lebenskünstlerhaushalt"

Den weiteren Verlauf ihrer Kindheit und Jugend verbrachte Alli Neumann im Umfeld des Rio-Reiser-Hauses im nordfriesländischen Fresenhagen. „Ich komme aus einem Lebenskünstlerhaushalt. Meine Eltern haben einen Kunst- und Antiquitätenhandel.“ Und bei einem der vielen Streifzüge über Antik- und Flohmärkte entdeckte sie dann auch ihre erste Inspirationsquelle: die Schallplatte „Schöner fremder Mann“ von Sängerin Connie Francis. „Ihr Humor, ihre unfassbare Stärke, aber auch ihre Zerbrechlichkeit – das fand ich toll.“

Bald begann Alli Neumann, mit Coversongs in Altenheimen und bei Stadtfesten aufzutreten. Bis der ehemalige Bassist von Rio Reiser, Jochen Hansen, sie ermutigte, selbst Songs zu schreiben. Da war sie zwölf. Eine frühe Berufung, die schnell auf fruchtbaren Boden fiel: Der Hamburger Produzent Franz Plasa, der bereits mit Stars wie Udo Lindenberg, Echt und Depeche Mode gearbeitet hatte, wurde auf sie aufmerksam. Mit 14 brach sie die Schule ab und arbeitete fortan in jeder freien Minute in Plazas H.O.M.E.-Studios an ihrer Musik.

Alli Neumann zog nach Hamburg

„Ich dachte damals: Jetzt geht es richtig los. Aber ich war überhaupt noch nicht an dem Punkt, um meine eigene künstlerische Vorstellung durchzusetzen in der Musikindustrie“, erzählt Alli Neumann. Sie erinnert sich an viele Konzerte, die sie vor nur sehr wenigen Leuten gespielt hat. Für die Popkünstlerin eine wichtige Zeit, um sich auszuprobieren. „Ich bin sehr froh, dass die Karriere bei mir nicht so schnell funktioniert hat.“

Alli Neumann zog komplett nach Hamburg, lebte mit ihren drei Schwestern in einer 50-Quadratmeter-WG und jobbte unter anderem an der Garderobe des Altonaer Theaters. Und dann kam da ja auch noch: der Film. Ihr Schauspieldebüt gab sie in „Wach“, dem Regie-Erstling von Kim Frank, einst Sänger der Teenieband Echt. „Ich kenne sie, seit sie 16 ist, weil sie mit unserem ehemaligen Produzenten zusammengearbeitet hat“, erzählt Frank im Interview mit dem Online-Magazin „Mit Vergnügen“.

"Alli ist einfach ein Star“

„Alli hatte gar keine Schauspielerfahrung. Wir haben uns über Wochen getroffen, viel geredet und geübt. Ihre Entwicklung war krass. Alli ist einfach ein Star.“ Es folgten Hauptrollen in Detlev Bucks „Wir können nicht anders“ und in „3 ½ Stunden“, einem Historienfilm über eine Zugfahrt zwischen der BRD und der DDR am Tag des Mauerbaus. Ganz schön viel Leben für eine junge Frau, die ihr Alter bewusst nicht nennt.

„Ich möchte andere Menschen und mich nicht über eine Zahl definieren“, sagt Alli Neumann. Schubladendenken aufzubrechen und neue Narrative zu erschaffen, dafür steht auch ihr Debütalbum „Madonna Whore Komplex“, das auf ihrem eigenen Label JAGA Recordings erschienen ist. Alli Neumann widersetzt sich dem stereotypisierten Blick auf Frauen, der entweder nur die Heilige oder die Hure sehen mag. Und nichts dazwischen.

Alli Neumann setzt sich für Veränderungen ein

Ihr Plädoyer für mehr Komplexität präsentiert sie selbstbewusst lächelnd. Mit ein bisschen Mittel-, aber ohne Zeige­finger. „Für mich war es sehr befreiend, patriarchale Strukturen zu verstehen, sie aber nicht persönlich zu nehmen. Denn auch Männer leiden ja unter diesen alten gesellschaftlichen Normen. Wir müssen uns alle davon lösen.“

Alli Neumann gehört zu einer passionierten Generation von Popkünstlerinnen, die sich für Veränderungen einsetzen. Sie engagiert sich unter anderem für die Klimabewegung Fridays for Future. Und sie steht immer wieder dafür ein, dass alle Teile der Bevölkerung sichtbar werden. Im Video zu ihrem Song „Frei“ spielt sie verschiedene Berufe durch, in denen Frauen oftmals noch nicht wirklich mitgedacht werden – von der Richterin bis zur Automechanikerin.

Alli Neumann wird noch viele Menschen begeistern

Eine Hymne, in der sie mit viel Disco- und Soul-Charme gegen die Stimmen ansingt, die einen kleinmachen. „Ich hätte viel lieber nur Cheer­leader in meinem Kopf“, heißt es in „Frei“. Die Zahl derer, die Alli Neumann ganz real anfeuern und ihr zujubeln, dürfte jedenfalls zunehmend größer werden.

Dockville Festival 19. bis 21.8., Schlengendeich 12, Tickets unter msdockville.de