Hamburg. Choreograf Christopher Wheeldon erklärt, weshalb er John Neumeier nicht beerben möchte – und spricht über seine zweite große Liebe.
Christopher Wheeldon ist einer der gefragtesten Choreografen weltweit. An diesem Sonntag feiert die William-Shakespeare-Adaption „The Winter’s Tale“ des in New York lebenden Briten bei den Hamburger Ballett-Tagen Deutschlandpremiere in der Staatsoper. Für die Kreation hatte er anlässlich der Premiere 2014 den Prix Benois de la Danse und hymnische Kritiken erhalten. Ein Gespräch über die Liebe zum neoklassischen Ballett, die Leidenschaft für Musicals und John Neumeier.
Sie haben vor wenigen Tagen den Tony Award als Choreograf für das Musical „MJ“ über den 2009 gestorbenen Pop-Sänger Michael Jackson erhalten. Man stellt sich eigentlich eher vor, dass Sie der Musik von Tschaikowsky lauschen. Wie ist dieses Projekt zustande gekommen?
Christopher Wheeldon: Die Produzenten wollten jemanden, der den ambitionierten Tanz Jacksons hervorheben würde. Ich hatte zuvor „Ein Amerikaner in Paris“ am Broadway choreografiert. Sie dachten, das hätte Jackson gefallen, und so fragten sie mich. Ich bin kein Super-Fan, aber es war die Musik meiner Jugend.
Welche Aspekte der Geschichte von William Shakespeares „The Winter’s Tale” haben Sie interessiert, als die Kreation 2014 beim Royal Ballet herauskam?
Wheeldon: Der Stoff wurde mir von dem erfahrenen Shakespeare-Regisseur Sir Nicholas Hytner angetragen. Es ist schwer zu inszenieren, weil es darin um zwei Welten geht, die kaum zusammenpassen. Hytner dachte, in einer poetischen, abstrakten Welt wie dem Tanz wäre eine Verbindung möglich. Also schlug er mir das Stück vor. Ich habe es konzentriert, einige Nebenfiguren gestrichen und damit, glaube ich, einen geradlinigen Weg gefunden, dem Narrativ zu folgen. Es geht ja darum, ein unerklärliches Aufflammen von Eifersucht und Wut mit allen tragischen Folgen für zwei Königsfamilien aufzuzeigen.
Das Stück gilt als „Problemtext”. Es ist ein psychologisches Drama, enthält aber auch komische Elemente und ein Happy End.
Wheeldon: Ich weiß nicht, ob es ein Happy End ist. Shakespeare ist nicht so konkret, was die Vergebung der Königin am Ende angeht. Es ist aber ein universeller Stoff. Wir alle brauchen das Gefühl, dass unsere Fehler im Leben auch vergeben werden.
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Joby Talbot?
Wheeldon: Joby Talbot und ich haben bereits für „Alice im Wunderland“ zusammengearbeitet. Unser Zugang zu Musik ist sehr ähnlich. Wir haben viel Zeit auf einen ersten Szenen-Entwurf verwendet und dann im Laufe eines Jahres über die Musik entschieden. Die Bewegungen kamen erst später.
Sie huldigen – wie John Neumeier – einem neoklassischen Stil. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Wheeldon: Das ist einfach ein Teil von mir. Ich erzähle Geschichten. Und das Ballett ist die Sprache, mit der ich mich dabei am wohlsten fühle. Ich war immer ein klassischer Balanchine-Tänzer und habe eher wenig mit zeitgenössischen Choreografen wie Angelin Preljocaj gearbeitet.
Das Festivalprogramm bis zum 3. Juli |
Die 47. Hamburger Ballett-Tage gehen noch bis zum 3. Juli. Nach der Uraufführung von „Die Unsichtbaren“ im Ernst Deutsch Theater folgt am 19. Juli die Premiere von „The Winter’s Tale“ in der Hamburgischen Staatsoper. Des Weiteren sind „Erste Schritte“ (20.6.), „Die Glasmenagerie“ (22.6.), „Sylvia“ (23.6.), „Dornröschen“ (24.6.), „Hamlet 21“ (25.6.), „Beethoven-Projekt II“ (26.6.) und „Liliom“ (30.6.) zu sehen. Am 28. und 29. Juni gastiert das Polnische Nationalballett mit „The Tempest“. Den traditionellen Abschluss bildet die Nijinsky-Gala (3.7.), bei der unter anderem die ehemalige Bolschoi-Primaballerina Olga Smirnova mit dem Dutch National Ballet gastieren wird. Vorstellungen in der Hamburgischen Staatsoper, Dammtorstraße, Karten unter T. 35 68 68, Menschen unter 30 Jahren (Nachweis erforderlich) können am 2. Juli die Vorstellung von „Ghost Light“ zum Preis von lediglich fünf Euro besuchen. |
Wie fügen sich die Broadway-Aufführung „An American in Paris” oder das „MJ”-Musical in Ihre Ballett-Arbeit?
Wheeldon: Das Musical ist meine zweite große Liebe. Ich bin in London aufgewachsen und habe dort als Kind jedes Musical gesehen, später natürlich auch am Broadway in New York. Vor allem die Ballette und später die „West Side Story Suites“ von Jerome Robbins haben mich als Tänzer des New York City Balletts stark geprägt. Es war immer ein Traum, eine Sehnsucht von mir. Ich arbeite an einem Werk, das Komplexität und Tiefe vereint, das aber auch zugänglich ist. Ich möchte Menschen erreichen und habe keine Angst, populär zu sein.
Gab es zu überwindende Schwierigkeiten bei der Übernahme von „The Winter’s Tale“ nach Hamburg?
Wheeldon: Die Tänzerinnen und Tänzer proben seit sieben Wochen. Sie sind die Arbeit mit John Neumeier und die psychologische Tiefenauslotung gewohnt. Meine Arbeit ist schon anders. Sie hat musikalisch eine feste Struktur. Es gibt wenige Tanzensembles, die tiefe Emotionen derart mit Bewegung ausdrücken können wie das Hamburg Ballett.
Sie arbeiten mit unterschiedlichen Kompanien, etwa dem New York City Ballet und dem Royal Ballet in London. Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere am Hamburg Ballett?
Wheeldon: Ich schätze die physische und mentale Hingabe der Tänzerinnen und Tänzer. Sie lassen sich wirklich voll und ganz auf die Arbeit ein.
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Es gab Gerüchte, dass Sie der Nachfolger von John Neumeier als Direktor des Hamburg Balletts werden könnten.
Wheeldon: Das ist eine große Ehre für mich. Tatsächlich werden immer wieder Anfragen an mich herangetragen, aber ich habe keinerlei Ambitionen, Direktor zu werden. Ich genieße die Freiheit zu reisen. Ich bin John Neumeier sehr dankbar, der immer ein großer Unterstützer und Förderer war, auch als ich noch ein junger Choreograf war.
„The Winter’s Tale“ Premiere So 19.6., 18 Uhr, Karten unter T. 35 68 68; weitere Infos unter www.hamburgballettt.de