Hamburg. Der Autor und Musikproduzent Johann Scheerer weiß, wie leer die Reihen bei Kulturveranstaltungen bleiben. Ein sehr persönlicher Appell.

Der Hamburger Musiker, Musikproduzent und Autor Johann Scheerer veröffentlichte unlängst auf Social-Media-Kanälen in Wort und Video mit großer Dringlichkeit einen Aufruf zu mehr Teilnahme am kulturellen Leben. Das hängt nämlich, eine Erfahrung, die auch die Abendblatt-Kritikerinnen und -kritiker gemacht haben, immer noch unter einer Corona-Glocke. Im Abendblatt konkretisiert Scheerer, dessen Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ ein Bestseller war, seine Beobachtungen. Ein Gastbeitrag.

Wo seid ihr?

Ich befinde mich gerade auf Lesetour durch Deutschland. Oder besser: Ich lese immer mal wieder zwei- bis dreimal hintereinander, alle paar Wochen in unterschiedlichen Städten dieses Landes. Vieles ist wie immer; manche meiner Lesungen sind ausverkauft, manche nicht. So oder so laufen sie ganz fantastisch. Ich genieße es, endlich wieder in echten Austausch mit echten Menschen zu treten. Ohne Bildschirm zwischen uns. Aber es gibt auch etwas, das mir in den letzten 20 Jahren meiner Karriere noch nicht passiert ist:

Manchmal kommt niemand. Selbst wenn Karten verkauft wurden. Ich habe in den letzten Wochen in Clubs und Literaturhäusern gelesen, wo noch nicht mal die Menschen gekommen sind, die auf der Gästeliste standen. In einer Stadt in Bayern saß ich mit meinem Lektor und Agenten zu dritt im Veranstaltungsraum. Die acht Personen von der Gästeliste, die jemand dort vor Monaten draufgeschrieben hatte, die 30- bis 40 Menschen, die vor Monaten Karten erworben hatten, kamen nicht. Es war, lieber Olaf, lieber Marcel, nichts für ungut, leider trist.

Veranstaltungen mit dünnem Publikum

Ein paar Wochen später, auf dem Rückweg von Bremen, wo drei Menschen zu meiner Lesung kamen, zurück nach Hamburg, habe ich angefangen, mit ein paar Künstlerinnen und Künstlern, mit denen ich zu tun habe, Rücksprache zu halten. Es ist ein heikles Thema, denn keine Band, keine Schriftstellerin und kein Schriftsteller, keine Schauspielerin und kein Schauspieler gibt gern zu, dass zu ihren Veranstaltungen kein Publikum kommt.

Der Autor und Plattenproduzent Johann Scheerer in seinem Studio Cloudshill ­Recordings in Ro­thenburgsort.
Der Autor und Plattenproduzent Johann Scheerer in seinem Studio Cloudshill ­Recordings in Ro­thenburgsort. © Michael Rauhe / FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Oder zumindest deutlich weniger, als er oder sie es gewohnt ist. Ich werde hier also keine Namen nennen, aber Bands, die normalerweise vor 400 bis 500 Leuten spielen, ja, auch Bands, die vor 50.000 Leuten spielen, die gerade auf Tour sind, einer Tour, die manchmal das zweite oder dritte Mal verschoben wurde, haben eine No-Show-Rate von 30 Prozent. Das heißt, bei 30 Prozent der Veranstaltungen kommt niemand! Und da, wo Leute kommen, kommen im Schnitt 30 bis 50 Prozent weniger, als Karten verkauft wurden.

Was geht hier eigentlich ab?

Woran es liegt, kann ich natürlich nur mutmaßen. Sicherlich ist ein Faktor, dass meine Lesungen und auch die Konzerte von den Bands, mit denen ich gesprochen habe, teilweise zwei- bis dreimal verschoben wurden. Die Leute haben jetzt was anderes vor, hören vielleicht längst andere Musik, interessieren sich nicht mehr für Literatur, sondern gehen abends immer ins Fitnessstudio. Was weiß ich.

Es gibt immer viele Gründe. Manche fühlen sich mittlerweile in Menschenmassen generell unsicher. Manche treibt weiterhin die berechtigte Angst um, sich anzustecken, zu erkranken, zu sterben. Die unterschiedlichen Regularien der letzten Monate und Jahre haben uns verunsichert. Findet die Veranstaltung jetzt überhaupt statt? Muss man Maske tragen? Wenn ja, welche? Muss man sich testen? Getestet werden? Offiziell in der Apotheke oder zu Hause?

Vermieste Konzerte wegen Maske und Abstand

Und, ich kann da aus eigener Erfahrung sprechen, wer in den letzten Monaten einmal ein Konzert besucht hat, bestuhlt, mit Maske und zwei Meter Abstand, dem ist für absehbare Zeit sicherlich die Lust auf Veranstaltungen vergangen. Und die Lüftungsanlagen in einigen Clubs sind so laut, dass man beim Lesen kaum sein eigenes Wort versteht.

Abstand nervt. Maske nervt. Das alles nervt. Kann ich alles verstehen. Aber es hilft nichts. Ich will hier niemanden überreden, trotz der nicht von der Hand zu weisenden Restrisiken unbekümmert auf Veranstaltungen zu gehen, doch es gibt einen wichtigen Punkt, den wir uns ungern eingestehen und an dem wir alle etwas machen können: Wir sind alle nach zwei Jahren Pandemie kulturentwöhnt.

Für die Einen Spaß, für die Anderen Existenz

Netflix gucken ist ‘ne bequeme Sache. Warum den Babysitter anfragen, wenn man zu Hause Wein trinken kann, wenn die Kinder dann endlich schlafen? Ich weiß. Ich mache es nicht viel anders. Puh ... sollen wir da wirklich heute Abend hin? Das Internet ist ja zu Hause. Der Fernseher. Das Handy. Multiscreening daheim statt Multitoxing in der Disco. Aber es gibt Menschen, für die sind diese Abendveranstaltungen ihre Lebensgrundlage.

Ganz zu schweigen von den Clubs, Theatern, Kinos. Die sind darauf angewiesen, dass ihr kommt. Die Kulturlandschaft verödet ohne euch! Ohne uns. Wir müssen uns wieder dran gewöhnen, rauszugehen! Es gab eine Zeit, in der es hieß, man sollte die Karten von abgesagten oder verschobenen Veranstaltungen, wenn man es sich leisten kann, doch bitte nicht zurückgeben. Das Geld würde den ohnehin von der Pandemie besonders gebeutelten Künstlerinnen und Künstlern, oder nennen wir sie „Solo-Selbstständigen“, helfen, in nächster Zeit ohne andere Einkünfte über die Runden zu kommen.

Scheerers Appell: „Geht hin!“

Doch nun hat sich die Situation geändert. Wenn ihr mit euren Karten zu Hause bleibt, bleiben die Clubs leer. Das Phänomen: Der Club ist ausverkauft, es stehen also keine Karten mehr zum Verkauf, aber niemand kommt. Zu groß ist die Anziehungskraft des neuen deutschen, nein weltweiten, Biedermeiers. Das Konzert fällt aus. Das ist ein Ex­trem, aber es ist real. Genauso real wie halb volle Veranstaltungsreihen bei Konzerten von Musikerinnen und Musikern, die normalerweise Monate im Voraus ausverkauft sind. Für die Menschen auf der Bühne, ich spreche da aus Erfahrung, ist es unglaublich frustrierend.

Und, ja, wir stehen im Stau. Einem Stau aus angesammelten Konzerten der letzten Jahre, die nachgeholt werden müssen. Teilweise, weil es Verträge gibt, teilweise, weil es der künstlerische Wille gebietet, das noch unaufgeführte Werk endlich auf die Bühne zu bringen, auch wenn es schon „alt“ ist. Ja, es gibt viele Gründe, warum die Situation gerade schwierig ist, aber nur einen Grund, an dem wir alle etwas ändern können: Wenn ihr Karten habt: Geht hin! Wenn ihr nicht könnt, gebt die Karten weiter. Das Sofa kann auf euch warten! Es braucht euch nicht! Die Künstlerinnen und Künstler brauchen euch!

Wenn ihr zu Hause bleibt, bleiben die Bands mittel- oder langfristig auch zu Hause. Und die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auch. Und die Schauspielerinnen und Schauspieler auch. Wir brauchen das Publikum.Und wenn ihr nicht kommt, ist es wahnsinnig trist und deprimierend. Und alle von uns, alle Bands, die ich kenne, alle Autorinnen und Autoren, alle Künstlerinnen und Künstler, wollen ihr Bestes geben. Wollen zeigen, was sie können. Und ohne euch geht es nicht.

Deswegen gewöhnt euch wieder dran! Geht auf die Straße! Geht in ‘nen dunklen Club, auch wenn das Wetter gut ist. Es sind nur ein bis zwei Stunden, aber meistens profitiert man davon. Im Regelfall profitiert man davon.Und ich glaube, ich sage nicht zu viel, wenn ich sage, ich spreche für alle Künstlerinnen und Künstler: Wir geben unser Bestes! Gewöhnt euch wieder daran, rauszugehen. Es wäre einfach zu schade, wenn da wirklich was verloren gegangen ist auf dem Weg in den letzten zwei Jahren.

Ich hoffe, wir sehen uns bald!