Hamburg. Der Szenenreigen „[BLANK]“ wirft im Malersaal des Schauspielhauses einen schonungslosen Blick auf ein Milieu struktureller Gewalt.

Helikoptereltern, na klar. Wer dem Telefongespräch lauscht, für den präsentiert sich die Sache eindeutig. Jonas Hellenkempers Einstiegsmonolog – es gibt zunächst nur seine Seite des Telefonats zu hören – klingt nach typischer Über-Fürsorglichkeit. Eine Mischung aus Ängsten, Erfahrungen, Klammern, Liebe und Übergriffigkeit: Hast du einen Mantel an, wann bist du zu Hause, wer ist bei dir, du trinkst doch keinen Alkohol? Erst ganz am Schluss der Szene wird die traurige Rollenumkehr deutlich: Wir haben das Kind gehört. Es ist die Mutter, die trinkt und sich herumtreibt.

„Es gibt überhaupt nichts Schlimmeres als Zuhause“, heißt es später im Stück – und es gibt vermutlich wenig schlimmere Sätze im Leben eines Menschen, zumal eines jungen, noch schutzbedürftigen. In „[BLANK]“ im Malersaal des Schauspielhauses, wo sich die diesjährige Schauspiel-Abschlussklasse der Theaterakademie Hamburg in der Regie von Julia Hölscher vorstellt, schält sich diese Feststellung als eine Kernerkenntnis des Abends heraus.

Theater in Hamburg: Schonungsloses Szenen-Kaleidoskop

Es gibt nichts Schlimmeres als Zuhause, wenn man aufwachsen muss wie die Kinder und Jugendlichen in diesem schonungslosen Szenen-Kaleidoskop der britischen Dramatikerin Alice Birch. Geprägt von Gewalt, Verwahrlosung, Missbrauch und Vernachlässigung. Traumata, wohin man schaut.

Schon Birchs „Anatomie eines Suizids“ – in der Schauspielhaus-Inszenierung von Katie Mitchell 2020 zum Berliner Theatertreffen eingeladen – war der wenig behagliche Blick in familiäre Strukturen, in denen sich die Depression unerbittlich durch die Generationen frisst. Die abweisende, unnachgiebige Härte spiegelt sich hier wie dort im Bühnenbild: Paul Zoller entscheidet sich im Malersaal, wie schon Alex Eales in „Anatomie eines Suizids“ auf der großen Bühne, ebenfalls für triste Betonmauern. Gemütlich sieht anders aus. Selbst wer einen Ausweg sucht, prallt gegen Wände.

„[BLANK]“ im Malersaal ist ein Variationsangebot

„[BLANK]“ ist jedoch kein Theaterstück im herkömmlichen Sinn, sondern ein Variationsangebot. Aus insgesamt 100 Szenen, einem Fundus der brutalen Trostlosigkeit, hat Julia Hölscher einen für ihr junges Ensemble passenden Reigen ausgewählt. Alle Spieler (Jonas Hellenkemper, Naomi Bah, Greta Ebling, Riccardo Ferreira, Emma Bahlmann, Raika Nicolai und Joshua Zilinske) können sich in ihrer Diversität zeigen – und tun das in ausgelassener Körperlichkeit, mit Souveränität und Präsenz.

Die scheinbar unzusammenhängende Szenenabfolge formiert sich dabei zum üblen Trip durch meist prekäre, immer aber illusionsfreie Lebensverhältnisse und ein Milieu der strukturellen Unterdrückung.

Die psychische und körperliche Gewalt erscheint so selbstverständlich wie das Wegschauen. Aus Überforderung, aus Gewöhnung. Da werden deutlich sichtbare Verletzungen routinemäßig als „Ungeschicklichkeiten“ beschrieben. Da erziehen Kinder an sich selbst und ihren Geschwistern herum, während sie die Mutter davor bewahren, an der eigenen Kotze zu ersticken. Die Wohlstandsverwahrlosung unterscheidet sich in ihrer Empathiefreiheit wenig: Ein Blutender liegt vor dem Haus, man lässt ihn liegen.

Die Charaktere überdrehen bis zur Albernheit

Die Charaktere – durchgeknallte, zynische, verlorene Gestalten – kratzen dabei regelmäßig an den Grenzen des Realismus, überdrehen (zum hörbaren Vergnügen anwesender Kommilitonen im Publikum) bis zur Albernheit. Schon die Kostümauswahl (Janina Brinkmann) erinnert an das Plündern von elterlichen Kleiderschränken oder den lustvollen Griff in die Verkleidungskiste. Viel Glitzerfummel, viel Cross-Dressing, genderfluide Figuren. Geschlecht, Alter, Schicht? Das Äußere führt immer wieder bewusst auf falsche Fährten.

Diese Version von „[BLANK]“ – es ist erst die zweite deutschsprachige Inszenierung der Stoff-Sammlung, und sie kommt mit rund anderthalb Stunden deutlich knapper daher als die Karlsruher Erstaufführung vor ein paar Wochen – ähnelt einer aus dem Ruder gelaufenen Party, bei der die Betäubung plötzlich nachlässt, weil einer erbarmungslos das Licht einschaltet.

„[BLANK]“, Schauspielhaus/Malersaal, wieder am 22.5., 16 und 20 Uhr, und am 23.5., 19 Uhr, Karten unter T. 248713 und schauspielhaus.de