Hamburg. Viktor Martinowitschs Werk “Revolution“ bringt ihn und seine Leser in Gefahr. Heute Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus.
Eine skrupellose Romanfigur, die an Wladimir Putin erinnert. Ein Romantitel, für dessen Originalausgabe der Verleger in Belarus verhaftet wurde. Ein Stoff, der so scharf in die Gegenwart passt, als habe das Deutsche Schauspielhaus ihn nach Kriegsbeginn eigens ins Programm gehoben.
Tatsächlich hat der weißrussisce Schriftsteller Viktor Martinowitsch, der trotz aller Repressionen nach wie vor in Minsk lebt und Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius lehrt, zwölf Jahre an „Revolution“ geschrieben.
An diesem Freitag feiert das Werk seine lange geplante Uraufführung in Hamburg. Was aber bedeutet es für einen Autor, wenn seine Arbeit zur Gefahr wird – nicht nur für ihn, sondern auch für seine Leser? Martinowitschs vorheriger Roman „Paranoia“ ist in seiner Heimat verboten; wer ihn liest, macht sich strafbar.
Wie schreibt man also in einem Land, in dem das Regime die Kultur systematisch einschüchtert – und warum? Ein Gespräch über Macht und Unterwerfung, Angst und Wahnsinn – und darüber, was die russische Literatur über Putins Krieg erzählt.
Sie sind gerade in Griechenland – was tun Sie dort?
Viktor Martinowitsch: Ich bin in den Bergen mit meinen Studenten von der Europäischen Humanistischen Universität, um die griechische Antike vor Ort zu studieren. Wir werden heute elf Kilometer zum Orakel von Delphi wandern. Um Europa zu verstehen, muss man Europa praktizieren. Es fühlen und mit seinen eigenen Augen sehen.
Was werden Sie das Orakel von Delphi fragen, wenn Sie es erreichen?
Ob es einen Atomkrieg geben wird. Ich habe das Gefühl, dass Putin nukleare Waffen benutzen wird.
Ich hatte vor, mit Ihnen über Angst zu sprechen, Sie zu fragen, ob Sie Angst haben. Das ist schon ein Teil der Antwort.
Ursprünglich hatte ich Angst vor Belarus. Ich hatte Angst davor, in meinem Heimatland jemand zu sein, der den Roman „Revolution“ geschrieben hat und nun den Ruf hatte, ein Dissident zu sein. Ich hatte Angst, dass sie – nachdem sie zu meinem Verleger kamen –, auch zu mir kommen würden. Ich hatte Angst, dass die mysteriöse Kommission, die alle verbliebenen Kopien des Romans „Revolution“ eingesammelt hat, nach einem Jahr der Inspektion zu dem Schluss kommt, mein Roman sei extremistisch und ich müsse als Krimineller verurteilt werden. Das waren die Dinge, vor denen ich Angst hatte – bis zum 24. Februar.
Noch im November haben Sie in einem Interview gesagt, das Russland der Gegenwart sei deutlich liberaler als Ihr eigenes Land, Belarus.
Viktor Martinowitsch: Ja. Noch im September hatte ich eine wundervolle Vorstellung in der St. Petersburger Eremitage. Für das Wiener Theaterprojekt „Ganymed in Power“ habe ich ein kleines Stück geschrieben, das dort gastiert hat. Ich habe Michail Piotrowski, den Direktor der Eremitage getroffen. Ich hatte das Gefühl, dass Russland ganz anders ist. Dass die russische Regierung gesünder ist, nicht so wahnsinnig wie die belarussische Regierung. Meine Freunde aus Russland, Autoren und Kollegen, die in Russland gelebt haben, haben schon damals zu mir gesagt: „Wach auf! Das ist nur die Vision eines liberalen Russlands! Wir haben dieselbe Situation, die ist nur versteckt!“ Und tatsächlich hat Russland nur zwei oder drei Wochen benötigt, um dasselbe Level an Wahnsinn zu erreichen wie Belarus.
Ihr Roman „Revolution“ spielt nicht in Belarus, er spielt in Moskau, einer „Stadt, die nichts mehr überraschen kann“, wie Sie schreiben: „Und die Stadt zuckt gleichmütig die Achseln.“ Wie schätzen Sie die Moskauer heute ein, stimmt der Eindruck, dass viele kritische Künstler das Land verlassen haben und es viel zu wenige gibt, die den Protest übernehmen? Ich weiß, dass Ihr Buch kein Kommentar zur aktuellen Situation sein kann, Sie haben es lange vorher geschrieben. Mein Eindruck ist dennoch, dass man solch einen Kommentar darin lesen kann.
Viktor Martinowitsch: Das ist eine gute Frage, Sie haben sehr genau gelesen. Erstens: Nach dem Start dieses Krieges verschwand die graue Farbe in Moskau. Es war vorher eigentlich so: Man konnte außerhalb der Politik stehen. Man konnte außerhalb dessen stehen, was Putin tat. Man konnte einfach ein guter Intellektueller sein, lesen und Bücher schreiben. Nach dem 24. Februar verschwand die Möglichkeit, außen vor zu sein. Man ist entweder für oder gegen den Krieg. Und wenn man gegen den Krieg ist, wird man verhaftet. Es ist so seltsam, wie schnell das ging. Zweitens: Ich habe nicht das Gefühl, dass dies ein Krieg des russischen Volkes gegen die Ukraine ist. Es ist ein persönlicher Krieg von Putin. Als die Proteste im August 2020 in Belarus begannen und massive Verhaftungen jener zur Folge hatten, die daran teilnahmen, hatte ich das Gefühl, Lukaschenko will die Gesellschaft erziehen oder bestrafen. Je länger es dauerte, desto mehr Menschen waren in die Verhaftungen involviert. Man kann so ein System nicht allein führen. Und was Putin grade tut, ist genau das, was Lukaschenko damals tat. Er versucht, dass alle mit hineingezogen werden. Nach einer Weile, fürchte ich, nach zwei oder drei Jahren – wenn der Krieg andauert, und das wird er – bedeutet „in Russland bleiben“, sich mit dem Krieg zu arrangieren, ihn zu akzeptieren. In meinem Roman kann man die tieferen Gründe finden, warum gute Menschen böse Dinge tun.
Sie schreiben, was aus meiner Sicht viel mit der gegenwärtigen Situation zu tun hat, viel über die Angst. Die Angst steht im Zentrum. Fast jede Ihrer Figuren hat Angst, ist von Angst geleitet, auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Ist Angst immer ein schlechter Berater?
Grundsätzlich: Ja. Angst kann aber gut sein, wenn es dich zu einer mutigen Person macht. Man kann keinen Mut fühlen, wenn man nicht auch Angst fühlt. Angst kann also das auslösende Gefühl für jemanden sein, um aufzustehen und zu reagieren. Das ist allerdings die einzige Situation, in der Angst hilfreich sein kann. In allen anderen Situationen ist Angst ausgesprochen fatal. Angst ist in der Lage, deinen Sinn für Moral zu verändern. Angst kann deine Einstellung zu „gut“ und „böse“ verändern.
Sie schreiben auch über den „Genuss zur Unterwerfung“. Den „Genuss“, wie Sie es nennen, keine Entscheidungen fällen zu müssen, keine Verantwortung zu übernehmen. Was ja das Gegenteil von Macht ist – und Macht ist, nach Angst und Unterwerfung, das dritte entscheidende Thema des Romans. Große Themen, die alle in der Gegenwart zu beobachten sind.
Absolut. Alle sind so überrascht, dass die Ukraine nicht bereit ist, sich zu unterwerfen! Dass die Ukraine Widerstand leistet. Es ist sehr interessant zu beobachten.
Wo sahen und sehen Sie Deutschland in dieser Konstellation?
Viktor Martinowitsch: Vielleicht irre ich mich. Aber Menschen, die ich in Deutschland kenne, sagen: Wir werden uns nicht unterwerfen. Wir werden widerstehen. Aber die Regierung, oder besser: einige der Regierenden, die verantwortlich dafür sind, Entscheidungen zu fällen, haben Putins Spiel gespielt. Er wusste genau, dass es so sein würde. Das war sein Plan! Wie Batja, eine Figur aus dem Buch, spürt er die Schwachpunkte in den Menschen. Er spürt, wo die Schwächen der europäischen Regierenden sind. Deutschland, ganz besonders Deutschland, gehorcht gewissermaßen, unterwirft sich.
Immer noch?
Nein, in den vergangenen Wochen hat sich die Situation etwas geändert. Aber finden Sie es nicht merkwürdig, wie polemisch der Umgang zwischen Selenski und einigen deutschen Regierenden war? Ich hätte erwartet, dass Europa sofort reagiert, sich sofort an die Seite der Ukraine stellt, sofort alles bereitstellt, um diesen Krieg zu beenden, um Putin aufzuhalten. Für mich ist es sehr offensichtlich, dass dieser Krieg keiner zwischen Russland und der Ukraine ist. Soweit ich weiß, ist dies der erste Krieg, der mit einer Belehrung, einer Art Strafpredigt begann. Putin hielt diesen Vortrag – und erst danach begann der Krieg. Und er sagt so viel über Europa darin und so wenig über das Land, das er dann überfiel, dass es offensichtlich ist, dass es ihm um die Europäische Union geht – oder um den „kollektiven Westen“, wie er ihn nennt. Er bekämpft den Westen. Für jedes europäische Staatsoberhaupt ist es ratsam, aus der Unterwerfung auszubrechen und damit zu beginnen, an Übermorgen zu denken.
Sie haben eben Batja erwähnt, eine entscheidende Figur im Roman. Batja ist eine Art Pate einer mächtigen Geheimgesellschaft, und es gibt eine Stelle, in der beschreibt der Protagonist ihn so: „Da sitzt dieser Opa, dem früher einmal das ganze Land gehörte. Und jetzt will dieser Opa das ganze Land wiederhaben.“ Ich musste an Putin denken.
Unbedingt, natürlich. Er war eine Art Vorbild für die Figur.
Sie haben zwölf Jahre an diesem Roman geschrieben. Warum haben Sie so lange gebraucht?
Ich musste die ganzen Details meistern, ich musste entscheidende Szenen ergänzen. Als ich die erste Version schrieb, vor zwölf Jahren, hatte ich das Gefühl, etwas Wesentliches nicht gesagt zu haben. Ich habe es jedes Jahr umgeschrieben, habe große Fragmente ausgetauscht gegen andere. Ich habe das in der Schweiz getan, in Österreich, eigentlich jedes Mal, wenn ich irgendwo ein Stipendium, einen Schreibaufenthalt hatte. Irgendwie konnte ich bei diesen Residenzen nie mit neuen Romanen beginnen.
Bedeutet das, dass Sie dieses Buch nie in Minsk geschrieben haben? Sie konnten es in Belarus nicht schreiben?
Viktor Martinowitsch: Ja, es überrascht mich selbst. Die Idee, diesen Roman umzuschreiben, kam mir nie, wenn ich in Belarus war. Interessant. Dort wollte ich immer etwas Neues schreiben. Das fällt mir leichter.
Sie haben „Revolution“ auf Russisch geschrieben, frühere Bücher auf Belarussisch. Wonach entscheiden Sie, welches Buch Sie in welcher Sprache schreiben?
Ich wechsele ab. Um die Schärfe, die Prägnanz jedes Wortes, das ich benutze, zu behalten. Wenn man zwischen den Sprachen wechselt, muss man seine Sprache neu suchen, neu finden.
Wie arbeiten Sie in Minsk? Wie ist Ihre Situation dort? Werden Sie überwacht?
Überwacht werde ich nicht. Sie verhaften oder verhören oder feuern einfach alle, die mit meinem Schreiben zu tun haben.
Aber nie Sie selbst?
Nein, mich nie. Ich verstehe es nicht. Vielleicht, weil ich oft gesagt habe, dass ich in dem Moment, in dem ich zum Verhör geladen werde, in dem ich durchsucht werde, das Land verlassen werde: Goodbye, Belarus, dann bleibe ich draußen. Aber für mich ist es sehr wichtig, im Land zu bleiben. Sobald man außerhalb ist, wird man zum Zuschauer, zum Beobachter. So weit kam es nie. Ich bin gelegentlich befragt worden, aber nie als Beschuldigter.
Stimmt es eigentlich, dass es in Belarus Geschäfte gibt, in denen man staatlich beschlagnahmte Waren erstehen kann? Kann ich da auch ihr noch immer verbotenes Buch „Paranoia“ kaufen?
Ja, sie verkaufen dort Artikel, die sie konfisziert haben. Ich war sehr überrascht, mein von irgendeiner Person konfisziertes Buch „Paranoia“ dort zu finden. Es war sogar auf der Website dieses Shops!
Das ist skurril. Was wird dort vor allem verkauft, viele Bücher?
Es war das einzige Buch, dass ich dort gesehen habe. Vor allem gibt es viele teure technische Geräte, die vom Zoll beschlagnahmt wurden. Mobiltelefone. Aber es ist nicht nur lustig, es ist auch sehr traurig. Als ich mein Buch dort fand, war mir sehr bewusst, dass jemand für den Besitz meines Buches durchsucht wurde, wahrscheinlich eingesperrt. Jemand wird eingesperrt, weil er mein Buch besaß! Es ist hart, weiter in Belarus zu bleiben, nachdem das passiert ist.
Ihr Verleger wurde verhaftet und wieder freigelassen. Ihr Buch „Revolution“ wurde verboten und, anders als „Paranoia“, wieder erlaubt. Ist das ein Zeichen, dass da ein Rest von funktionierendem Rechtssystem ist? Oder geht es vielmehr darum, die Menschen zu verwirren? Die Regeln nicht zu eindeutig zu machen?
Ich vermute, dass es wichtige Menschen innerhalb des Systems gibt, die eine Art Respekt oder ein Interesse für mein Schreiben haben. Und sie haben womöglich das Gefühl, dass mein Buch nützlich für sie sein könnte. Oder vielleicht denken sie auch: Wenn er nicht bleibt, ist da niemand mehr. Niemand. Und ich bin sehr vorsichtig, was ich über Belarus sage – obwohl ich sehr offen und aufrichtig bin, versuche ich, mich nicht wie ein Ankläger zu verhalten. Aber auf der anderen Seite: In Minsk sollte ein Theaterstück von mir gespielt werden, ein unpolitisches Stück, eine Komödie über den Tod eines Dichters, an einem Theater, das zwar staatlich, aber halbwegs unabhängig ist. Der alte und sehr respektierte Theaterdirektor akzeptierte dieses Stück. Aber sie haben es gecancelt.
Wer ist „sie“?
Das Kulturministerium, Leute aus dem System. Und Sie müssen sich die nicht wie Agenten in „Matrix“ vorstellen. Das sind keine Leute mit schwarzen Anzügen und schwarzen Sonnenbrillen. Es sind freundliche, nette „ladies and gentlemen“, die den Direktor gefeuert haben. Wie Sie es bei Hannah Ahrendt lesen können, wie es in Nazi-Deutschland passiert ist, die „Banalität des Bösen“.
Sie ziehen im Roman Parallelen zu einem weiteren Buch, zur Figur des Raskolnikow aus Dostojewskis „Schuld und Sühne“, insbesondere zu dessen Idee, dass „außergewöhnliche Menschen“ Rechte über die „gewöhnlichen Menschen“ haben. Kann man aus den großen russischen Klassikern etwas über das Russland der Gegenwart und die russische Kriegsführung lernen?
Ja, ja, natürlich! Dies ist ein sehr literarischer Krieg. Die Hauptsache, die Sie aus den großen russischen Klassikern nehmen können, ist ihre Idee der Ambivalenz des Bösen. Alle Dostojewski-Helden sind gut und schlecht zur selben Zeit. Obwohl ein Mann seine Tochter zur Prostitution treibt, erzählt Dostojewski uns dennoch, dieser Mann sei eigentlich gut – nur ein bisschen „schwach“ durch den Alkoholismus. Auch bei Puschkin: Jeder Charakter trägt einen Teufel in sich. Die Ambivalenz lehrt die Russen, dass es keine reinen Guten oder Bösen gibt. Und sogar wenn wir den Krieg beginnen, tun wir das auf die „richtige“ Art und Weise: Sogar, wenn wir in ein Land einmarschieren, besetzen wir es nicht, wir „befreien“ es.
Ist jeder Mensch zum Bösen verführbar? Ihr Protagonist ist ein guter Mensch. Kein schlechter jedenfalls, ein Intellektueller, ein Architekturprofessor. Aber er verändert sich im Laufe der Ereignisse.
Er wird zum Monster. Das unterscheidet den Text von den russischen Klassikern. Ich lasse ihm keinen Raum, human zu bleiben.
Sie beschreiben diese Entmenschlichung sehr prägnant. Etwas, was wir in vielen Kriegen beobachten, in diesem erneut sehr bewusst: Die Vergewaltigungen, die Folter, begangen von „normalen“ Soldaten, wären ohne die Entmenschlichung nicht möglich.
So ist es.
Was bedeutet es für Sie, Ihren Roman auf einer Bühne wie der des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg zu sehen? Verstehen Sie das als eine Form der politischen Unterstützung?
Viktor Martinowitsch: Nein. Es ist sehr persönlich. Für mich ist es der Grund, am Leben zu bleiben. Es ist der Grund, darüber nachzudenken, weiterzuschreiben. Ich bin ein unsichtbarer Mann. In den letzten zwei Jahren habe ich nicht existiert. Ich kann kein Buch veröffentlichen. Letztes Jahr wollte ich das System überlisten. Ich habe ein Märchen geschrieben, ein Kinderbuch. Aber es wurde nie veröffentlicht. Nach einem Jahr des Unsichtbarseins kam dann der Vorschlag, „Revolution“ am Schauspielhaus auf die Bühne zu bringen. Das war das Gefühl puren Glücks. Ich war tot und jemand ließ mich auferstehen. Ich bin wirklich, wirklich dankbar.
Ihr Roman endet nicht besonders zuversichtlich. Nachdem wir dieses Gespräch mit der Sorge vor einem Atomkrieg begonnen haben, ahne ich die Antwort, möchte aber dennoch fragen: Sind Sie noch eine optimistische Person? Haben Sie Hoffnung?
Ja. Und wissen Sie warum? Weil Wunder von Zeit zu Zeit geschehen. Die Tatsache, dass mein Buch im Schauspielhaus gespielt wird, ist ein Wunder. Es gibt Wunder in dieser Welt. Trotz der Monster, die auf den Straßen wandeln. Wunder können geschehen. Auch in Moskau.