Hamburg. Vor 25 Jahren wurde Reemtsma verschleppt, erst nach einem Monat kam er frei. Erinnerungen an eine Tat, die bis heute nachwirkt.
Selten hat eine Nachricht bei der Hamburger Polizei so schnell die Runde gemacht. Von Smartphone zu Smartphone gingen an diesem Mittag zunächst vage Meldungen, dann die Bestätigung. Tweets, erste Online-Artikel oder kleine Filmchen von Nachrichtenportalen über eine Festnahme in den Niederlanden machten im Minutentakt die Runde in Hamburg.
Der Mann, den die Kollegen in Amsterdam gerade festgenommen hatten, ist hier ein alter Bekannter, aber ganz und gar kein guter. Von „täterimmanenter Dissozialität“ oder – einfacher ausgedrückt – von der unglaublichen Rücksichtslosigkeit und Brutalität eines Berufsverbrechers ist die Rede, wenn man mit Hamburger Polizisten über den in Holland Festgenommen spricht: Thomas Drach.
Fällt der Name, stellt sich die Erinnerung sofort ein. „Reemtsma-Entführer soll Raubserie verübt haben“, „Überfälle auf Geldtransporter – Verdächtiger ist Reemtsma-Entführer“ oder „Ikea-Überfall: Gefasster Verdächtiger ist Reemtsma-Entführer Thomas Drach“ lauteten die Schlagzeilen an jenem Dienstag Ende Februar.
Vor 25 Jahre Jahren wurde Jan-Philipp Reemtsma entführt
Drach also – und nicht die „RAF-Rentner“, die lange Zeit verdächtigt wurden – soll hinter drei brutalen Geldtransporterüberfällen in den Jahren 2018 und 2019 in Köln und Frankfurt/Main stecken, da sind sich die Fahnder sicher. Brutal und rücksichtlos, wie schon bei der Entführung vor 25 Jahren, soll Drach auch hier wieder vorgegangen sein. So lauerte der Haupttäter dem Fahrer eines Geldtransporters auf einem Ikea-Parkplatz in Frankfurt auf – und schoss sofort. Wie auch bei einem der weiteren Überfalle.
Polizei und Staatsanwaltschaft werfen dem 60-Jährigen deshalb gemeinschaftlichen schweren Raub in drei Fällen und Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz vor. War Drach der Täter, dann brauchte er vermutlich Geld, denn die Millionenbeute aus der Entführung des Hamburger Mäzens scheint längst verprasst zu sein.
Reemtsma-Entführung: Thomas Drach wartet auf Prozess
Mit 60, wenn andere allmählich in die Rente gehen, wartet der Berufsverbrecher jetzt auf seinen nächsten Prozess. 25 Jahre zuvor war er der Drahtzieher eines der spektakulärsten Hamburger Verbrechen überhaupt: der Entführung von Jan Philipp Reemtsma. Der Fall hatte alles, um später zum „Jahrhundertverbrechen“ hochgeschrieben zu werden.
Hier das Opfer: der wohlhabende Hamburger mit klangvollem Namen, der lieber Literaturwissenschaften und Philosophie studierte und das Institut für Sozialforschung gründete, als die Zigaretten-Dynastie fortzuleben. Der die Abgeschiedenheit dem gesellschaftlichen Leben, das ihm offenstand, bis heute vorzieht. Der für die meisten Hamburger trotz seines Engagements zur Befriedung des Streits um die Hafenstraßenhäuser ein Phantom blieb, bis zu jenem 26. April, als die Freilassung nach 33-tägiger Entführung ihn und seine Frau Ann Kathrin Scheerer brutal in die Öffentlichkeit zerrte.
Soko-Chef Langendörfer: „Irgendwann kriegen wir sie alle“
Auf der anderen Seite eine Bande skrupelloser Entführer mit einem Mann an der Spitze, der in den Medien auch schon mal unreflektiert ein „kriminelles Superhirn“ genannt wurde, das mit einem größeren Teil der Beute von insgesamt 30 Millionen D-Mark verschwunden schien.
Nur wie das so ist mit kriminellen Superhirnen – auch sie machen Fehler. „Irgendwann kriegen wir sie alle“, sagte der damalige Soko-Chef Dieter Langendörfer. Und so war es auch hier.
Das Abendblatt zeichnet die dramatische Zeit vor 25 Jahren nach:
Die Opfer:
Es ist ein scheinbar ganz normaler Montagabend an diesem 25. März 1996, an dem sich das Leben der Familie Reemtsma dramatisch verändern sollte. Gegen 20.30 Uhr verlässt der 43-Jährige noch kurz das Wohnhaus in Blankenese, um im nahe gelegenen und in den Medien später so genannten Arbeitshaus ein Buch zu holen. In der Dunkelheit des Märzabends schlagen die Entführer Reemtsma nieder, verschleppen ihn.
„Die Entführung war von langer Hand geplant worden“, schreibt Reemtsma später in seinem Buch „Im Keller“, in dem er – noch in damals geltender Rechtschreibung – die Entführung verarbeitet. „Irgendwann hat man damit begonnen, meine Lebensumstände und -gewohnheiten auszuspähen … Wahrscheinlich hatte die Entführung Anfang März stattfinden sollen, nur waren da Schulferien und wir zwei Wochen verreist. Auch Ende März war es noch ausreichend dunkel. Ich wurde also vor der Tür des später so genannten Arbeitshauses niedergeschlagen, gefesselt, weggeführt und verschleppt.
Erpresserbrief mit Lösegeldforderung
Meine Frau, erst ärgerlich, dann beunruhigt darüber, daß ich, entgegen meiner Gewohnheit, ohne dies vorher anzukündigen lange (wie sie annahm) im Arbeitshaus blieb, sah gegen Mitternacht nach dem Rechten. Eine Statue, die vor dem Haus stand, war umgestürzt, auf einer Mauer lag, mit einer Handgranate beschwert, ein Erpresserbrief“, schildert Reemtsma in seinem Buch seine Entführung, um schließlich aus dem Schreiben zu zitieren: „Wir haben Herrn Reemtsma entführt. Wir fordern ein Lösegeld von 20.000.000 DM … Das Einschalten von Presse und Polizei bedeutet den Tod“, heißt es darin, geschrieben in Initialen. Für die Familie beginnt ein 33-tägiges Martyrium.
Die Polizei:
Und für die Polizei ein Kampf um das Leben Jan Philipp Reemtsmas. Es ist gegen 2 Uhr, als Dieter Langendörfer alarmiert wird. Vermutlich handele es sich um eine Entführung, aber sicher sei man noch nicht, berichtet der „Führungsoberbeamte“ dem Kriminaloberrat und Leiter des LKA 24 (Inspektion Gewaltkriminalität). Langendörfer eilt ins Präsidium, trifft dort Mike Daleki, Chef der Ermittlungsabteilungen im Landeskriminalamt. Verdeckt sickern im Lauf der nächsten Stunden Polizisten im Haus der Familie Reemtsma ein, getarnt beispielsweise als Paketbote – sollte die Villa von den Entführern beobachtet werden. Am Tatort finden sie neben der Handgranate und dem Entführerschreiben: Blut. „Sie wollten uns damit zeigen, dass sie es ernst meinen“, sagt Langendörfer.
Das Blut stammt von Reemtsma, dessen Kopf die Entführer gegen eine Mauer geschlagen hatten, bevor sie ihn verschleppten. Die Polizei ist – soweit das halt geht – auf derartige Lagen vorbereitet. Man hat Pläne für eine sogenannte „besondere Aufbauorganisation“ vorbereitet in der Schublade. Die steht nach nur einem Tag.
200 Fachleute aus den unterschiedlichsten Bereichen werden zusammengezogen – MEK, Psychologen, Kriminalisten, Spurensicherer, „Angehörigenbetreuer“, Profiler des BKA. Die Zahlungsbereitschaft wird den Entführern über eine Grußanzeige in der Hamburger Morgenpost „kommuniziert“. Da die Entführer rücksichtslos und brutal zugeschlagen haben, fordert die Polizei ein Lebenszeichen.
Die Opfer:
Eine Familie im Ausnahmezustand. Die Polizei spricht von einer psychischen Grenzsituation für Ann Kathrin Scheerer und den 13 Jahre alten Sohn Johann: Die Entführer schicken am 27. März ein Polaroidbild. Es zeigt den verletzten Mann und Vater. Das Opfer im Trainingsanzug, eine aktuelle Ausgabe der „Bild“-Zeitung hochhaltend, bedroht von einem Mann, von dem man nur die Kalaschnikow in den Händen sieht.
Innerhalb weniger Stunden steht das Lösegeld bereit – 20 Millionen Mark. Frau Scheerer erlaubt der Polizei, das Geld zu präparieren – mit einem neuen, von Laien nicht feststellbaren Präparat, schreibt Reemtsma später. Die Autos werden mit GPS überwacht, die Telefone „angezapft“. Frau Scheerer unterzeichnet eine Postvollmacht, damit Polizisten Erpresserbriefe schon am Hauptpostamt abfangen können.
Opfer in Ferienhaus in Garstedt angekettet
Währenddessen kerkern die Entführer ihr Opfer in einem Monate zuvor angemieteten Ferienhaus in Garlstedt nördlich von Bremen ein. Reemtsma schreibt in seinen Erinnerungen von sich in der dritten Person, weil er so „Peinliches“ leichter habe sagen können: „Er machte die Augen wieder auf und sah am Boden eine Matratze, eine an der Wand befestigte Kette. Die Handschellen wurden aufgeschlossen und abgenommen. Man zog ihm Jacke, Pullover, Hemd und Hose aus … Die Unterhose durfte er anbehalten.
Man hatte nicht die Absicht, ihn zu demütigen … Etwas wie ein Pullover und eine Hose wurden ihm übergestreift – später sah er, daß es sich um einen grauen Trainingsanzug mit rotem Aufdruck handelte. Er musste sich auf einen Stuhl setzen, die Kette wurde um seinen roten Fußknöchel geschlungen und mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert.“ Angekettet an eine Wand in einem gut zehn Quadratmeter großen Keller, ein Plastiktisch und -stuhl, Matratze, Campingtoilette und eine Plastikwanne mit Wasser – das muss Reemtsma gut einen Monat lang erleiden.
Klopft es an der Tür zum Verlies, muss er eine Maske aufsetzen, bevor einer der Täter den Raum betritt. Ist es Drach, wird konsequent Englisch gesprochen, sodass Reemtsma ihn später im Buch den „Engländer“ nennen wird. Reemtsma bittet um Lektüre, um sich abzulenken, Drach überlässt ihm unter anderem die Bibel. Auch darf Reemtsma der Familie Briefe schreiben. Zu essen bringen ihm die Entführer Brote mit Marmelade, Schinken, Wurst oder Käse vorbei. „Einmal gab es ein paniertes Schnitzel vom Imbiß, einmal ein halbes Hähnchen, zweimal versalzene Ravioli, zweimal Linsensuppe, zweimal Nudelsuppe – jeweils aufgewärmte Doseninhalte“, erinnert sich Reemtsma.
Die Polizei:
Die Strategie der Polizei ist, alles zu unterlassen, was das Leben Reemtsmas gefährden könnte. Und zugleich aber herauszubekommen, mit wem – also mit welchen Typen von Tätern – man es zu tun hat. In der „Mopo“ erscheinen die nächsten Anzeigen. Die erste Geldübergabe durch die Frau und einen befreundeten Anwalt scheitert Anfang April in der Nähe Hamburgs.
Vermutlich konnten die Geldboten das enge Zeitfenster nicht einhalten, das die Entführer vorgegeben hatten. Die große Sorge der Polizei: Geben die Täter ihr oder der Familie die Schuld für die gescheiterte Übergabe? Was bedeutet das für das Opfer? Töten die Verbrecher Reemtsma – oder lassen ihn unversorgt und angekettet im Verlies zurück? Was vermutlich zu einem langsamen Tod führen würde.
Die Opfer:
Reemtsma ist verzweifelt. „Am Morgen des 3. April kam der Engländer hörbar verärgert in den Keller. Wenn es so weitergehe, könne die Angelegenheit noch Monate dauern. Das war nicht nur niederschmetternd, weil er (Reemtsma) inständig gehofft hatte, es werde nun bald alles vorbei sein (aber stets mit dem Zweifel: bedeutet das die Freiheit oder den Tod?), sondern auch, weil er nicht verstand, was draußen vorging“, schildert Reemtsma in dritter Person seine Verzweiflung.
Die Stimmung auf allen Seiten verschlechtert sich. Reemtsma schreibt seiner Frau: „Liebe Kathrin – ich weiß nicht, was ihr tut, die Geldübergabe ist heute Nacht gescheitert, niemand ist gekommen. Ich habe Angst! Die Stimmung hat sich radikal verschlechtert, sie haben gedroht, das könne hier noch Monate weitergehen und sie würden mir einen Finger abschneiden. Ich halte das nicht für leere Drohungen. Bitte, Kathrin, glaub mir und hilf mir. Jetzt!“
Opfer geprägt durch Todesangst
Polizeipsychologin Claudia Brockmann, der eine zentrale Rolle in den Reihen der Polizei zukommt, schreibt dazu später in einer Analyse über Entführungen, das psychische Erleben des Opfers sei geprägt durch „Todesangst infolge der empfundenen Gefahr, aktiv getötet zu werden oder auch einfach zurückgelassen und dann nicht gefunden zu werden.“ Aus den Gefühlen des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und der Hilflosigkeit könne Verunsicherung resultieren, infolge einseitiger Informationen über das Geschehen ,draußen’. „Das kann das Zweifeln an der Zahlungsbereitschaft und damit Loyalität der Familie nach sich ziehen“, analysiert die Polizeipsychologin.
Die Polizei:
Die Polizei lässt eine Legende streuen, um Nachfragen zum plötzlichen Verschwinden Reemtsmas zumindest für eine Zeit lang zu unterbinden. Reemtsma sei krank, informiert man unter anderem dessen Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung, das der Literatur- und Sozialwissenschaftler gegründet hat und damals auch leitet. Die nächste Geldübergabe steht an – und scheitert erneut. Dieses Mal, es ist inzwischen Mitte April, beordern die Entführer den Anwalt mit dem Lösegeld ins 600 Kilometer entfernte Luxemburg.
Wieder, wie schon bei der ersten Geldübergabe, kann das enge Zeitfenster, das Drach und Co. vorgegeben haben, nicht eingehalten werden: Zunächst vergisst die Polizistin, die den Geldboten begleitet, ihren Pass zu Hause und muss umkehren, dann ist der Freund der Familie auch ein eher ungeübter Autofahrer, wie es später bei der Polizei heißt. Auf einem Autobahnparkplatz zwischen Luxemburg und Trier fliegen verpackte 20 Millionen D-Mark über einen Zaun – nur dass niemand sie in der Nacht noch abholt.
Polizei sammelte Geld wieder ein
Die Polizei sammelt morgens das Geld wieder ein. Im Nachhinein analysiert die Soko Planungsfehler aufseiten der Entführer, die zu Konflikten zwischen Polizei und Familie geführt hätten. Große Sorge um das Entführungsopfer, Angst zu versagen, Schuldgefühle und Frustration greifen immer weiter um sich.
Die Entführer werden immer wieder aufgefordert, „sinnfällige und positiv belegte Lebenszeichen“ (Polizeipsychologin Brockmann) ihres Opfers zu vermitteln: Antworten auf private Fragen, die aber auch nicht zu kompliziert oder zu weit zurückliegend sein dürfen – also für Reemtsma noch zu beantworten sind. Das Vorgehen soll die Täter zwingen, regelmäßig nach ihrem Opfer zu schauen und sicherzustellen, dass es dem Entführten soweit möglich gut geht. Zugleich sollen die Fragen dem Opfer signalisieren: Du bist nicht vergessen, wir kümmern uns weiter um deine Freilassung. „Kommuniziert“ wird weiterhin vonseiten der Familie und Polizei über die Kleinanzeigen. Die Täter legen nach. 15 Millionen D-Mark und 12 Millionen Schweizer Franken soll die Familie nach der erneut geplatzten Geldübergabe beim nächsten Mal zahlen. Umgerechnet zehn Millionen D-Mark mehr als ursprünglich gefordert. Die Medien schweigen noch immer.
„Die Angehörigen haben ein Recht auf Realität.“
Die Wartezeit wird für die Opfer nahezu unerträglich. Polizeipsychologin Brockmann schreibt rückblickend in ihrer Analyse von Entführungen über „ambivalente Gefühle“ der Angehörigen gegenüber der Polizei. „Einerseits sind Angehörige erleichtert, nicht allein vor der Situation zu stehen. Andererseits können auch immer wieder Zweifel auftreten hinsichtlich der Richtigkeit der Entscheidung, die Polizei eingeschaltet zu haben.“
Der Informationsmangel, wie ihn auch die Familie von Jan Philipp Reemtsma immer und immer wieder erdulden muss, „hinsichtlich des Zustandes des Opfers, der Art der Unterbringung und der Versorgung wird als unerträglich erlebt.“ Welche Lehre sie aus dem konkreten Fall gezogen habe? Dass die Polizei gegenüber Angehörigen maximal transparent sei und Informationen nicht verschweige, um die Familie vermeintlich zu schonen, sagt Claudia Brockmann. „Die Angehörigen haben ein Recht auf Realität.“
Die Opfer:
Reemtsma entscheidet sich aus seinem Verlies und gedrängt durch die Entführer für zwei gravierende Veränderungen: Er tauscht den Geldboten aus – und drängt darauf, dass sich die Polizei jetzt heraushält. Die Familie setzt die Polizei vor die Tür, was diese später als ihre „schwerste Stunde“ bezeichnen wird.
Reemtsma denkt zunächst an den ehemaligen Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi als neuen Geldboten. „Zwar würde Dohnanyi, daran hatte er keinen Zweifel, sofort bereit sein, ihm zu helfen“, schreibt Reemtsma wieder in dritter Person, verwirft den Gedanken dann aber wieder, denn als Politiker werde Dohnanyi „gar nicht die Möglichkeit haben zu entscheiden, ohne Polizeibeobachtung zu agieren“. Wer also dann? Wer ist bekannt genug? War hat genug Autorität der Polizei gegenüber?
Soziologe Lars Clausen als Geldbote
„Sie (die Person) muss mich retten wollen“, schreibt Reemtsma und entscheidet sich für den Kieler Soziologen Lars Clausen. Aber wer könnte die zweite Person sein? „Der Engländer hatte wiederholt die Kirche ins Spiel gebracht … Sollte er (Reemtsma) die nordelbische Bischöfin um die Delegierung eines Pastors bitten? Das war irgendwie absurd“, schreibt das Opfer später. Er wählt Christian Arndt von der St.-Pauli-Gemeinde, wie Reemtsma Vermittler im Streit um die Hafenstraßenhäuser. Und wie Clausen hat Arndt ein „bekannt kritisches Verhältnis zu Staat und Polizei“. Die beiden erklären sich bereit, die nächste Geldübergabe zu übernehmen.
Bei der Familie geht die nächste Nachricht der Gangster ein. „UNSERE GEDULD ENDET BALD DA SICH DAS GANZE BALD IN DIE VIERTE WOCHE ZIEHT SOLLTE DIE MOMENTANE POLIZEITAKTIK WEITER VERFOLGT WERDEN BEDEUTET DAS DEN SICHEREN TOD VON HERRN REEMTSMA“, schreiben sie ohne Punkt und Komma.
Geldübergabe in Krefeld
Es dauert dann noch etliche Tage, bis die Entführer die ersten Details zur nächsten Geldübergabe übermitteln. Die beiden neuen Geldboten brechen am 24. April mit zwei Reisetaschen voller Geld in einem Mietwagen auf. Es geht wieder Richtung Westdeutschland. Die Entführer lotsen sie bei Krefeld auf einen Feldweg, wo sie den Wagen stehen lassen müssen, das Geld im Kofferraum. Fast schon entschuldigend melden sie sich nach einer Weile bei den beiden Geldboten: Man habe den Wagen beim Rückwärtsfahren unabsichtlich demoliert und in einem Graben zurückgelassen. Aber die Geldübergabe hat funktioniert. 43 Stunden später setzen die Entführer Reemtsma kurz vor Mitternacht in einem Waldstück bei Harburg aus. Endlich frei nach 33 Tagen im Verlies.
Lesen Sie auch:
- Drehstart in Hamburg: Buch des Reemtsma-Sohns wird verfilmt
- Jan Philipp Reemtsma: "Thomas Drach wird immer gefährlicher"
- Reemtsma-Entführer Drach soll Geldtransporter überfallen haben
„Er ging einfach weiter Schritt für Schritt wie eine Maschine. … Wie lange? Etwa eine halbe Stunde, wahrscheinlich mehr“, schreibt Reemtsma immer noch in dritter Person über die ersten Minuten nach der Freilassung. Wohin? Hauptsache, weg von seinem Entführer. „Dann war er im Dorf. … Ein Haus hatte noch Licht, er sah durch das Wohnzimmerfenster einen Mann, der sich Tennis im Fernsehen ansah. Einen Augenblick kam er sich vor wie ET.“
Untersuchungen im Bundeswehrkrankenhaus
Reemtsma klingelt. Es beginnt ein denkwürdiger Dialog: „,Ja bitte?‘ - ,Entschuldigen Sie die späte Störung, ich wollte Sie fragen, ob ich vielleicht telephonieren dürfte.‘ - ,Wenn es kein Ferngespräch nach Australien ist?‘ – Nein, nach Hamburg. Ich möchte meine Frau anrufen. Ich kann es Ihnen auch erklären, warum ich hier nachts so abgerissen vor Ihrer Tür stehe. Es ist eine ziemliche Räuberpistole, und Sie werden’s mir kaum glauben. Ich wurde nämlich entführt und bin eben wieder freigelassen worden.‘ - ,Was?! Soll ich mein Gewehr holen?‘ - ,Nein, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es ist jetzt vorbei.‘“ Der Mann lässt Reemtsma nicht nur ins Haus und telefonieren – er bietet ihm auch ein Glas Wein an.
Es folgen Untersuchungen im Bundeswehrkrankenhaus, dann zieht sich die Familie für eine Woche in die USA zurück. Zu Hause wäre es bei dem Medienauftrieb nicht möglich gewesen, zur Ruhe zu kommen.
Die Polizei:
„Die Stunde der Ermittler schlägt nach der Freilassung. Während der Entführung geht es in allererster Linie darum, das Leben des Entführten zu retten“, sagt Dieter Langendörfer, damals Chef der Soko 96/2. Während die Entführung lief, hatte die Polizei allerdings schon versucht, Ermittlungsansätze für später zu sammeln. Um wie viele Täter handelt es sich eigentlich? Gibt es Hinweise auf sie oder ihre Herkunft? Einen Dialekt vielleicht? Jetzt, nach der Freilassung, versuchen Psychologen der Polizei, Reemtsmas Erinnerungen zu befördern. Dessen Gedächtnis ist phänomenal.
Der Druck auf die Beamten wächst, auch aus der Hamburger Politik. Die will Erfolge sehen. Die Polizei habe zu „parieren“. Viele Polizisten empfinden das als Affront. Dann stellen sich die ersten Erfolge ein. Nachdem eine frühe Geldübergabe auch an Verständigungsproblemen durch die extrem verzerrte Stimme der Entführer gescheitert war, konnte die Polizei in einem späteren Telefonat die Gangster überzeugen, den Stimmenverzerrer herunterzufahren. So kamen die Fahnder zu brauchbaren Sprachaufnahmen für eine Öffentlichkeitsfahndung nach der Freilassung Reemtsmas. Die Profiler sind von der Aufnahme begeistert. „Die hatte die Qualität eines Fingerabdrucks“, sagt einer, der dabei war. Eine forensische Phonetikerin analysiert die wenigen klaren Sätze. Ihr Ergebnis: Der Anrufer ist älter als 50, kommt laut Sprachmelodie aus dem Rheinland und ist möglicherweise Handelsvertreter.
5000 Hinweise gehen bei Polizei ein
5000 Hinweise gehen nach der Freilassung Reemtsmas in der auf Hochtouren laufenden Fahndung ein. Die Soko sortiert sie in drei imaginäre Körbe: „heiße Spur“, „halbschwanger“, „nichts dran“. Die große Schwierigkeit bei der Priorisierung ist die Masse der Hinweise. Womit beginnen? Worauf sich konzentrieren? Soko-Chef Dieter Langendörfer entwickelt eine These: Finden wir das Versteck, finden wir die Täter, lautet der nicht unumstrittene – aber später erfolgreiche – Ansatz. Und dann der Durchbruch: Ein Anrufer ordnet die Stimme einem Herrn R. zu – ein Mann über 50, Handelsvertreter aus dem Rheinland.
Von einer Maklerin kommt der Hinweis auf ein Ferienhaus nördlich von Bremen, samt Mietvertrag, der ein Jahr zuvor abgeschlossen worden war, Namen – und Anschrift. Von allen möglichen Verstecken, auf die der Soko Hinweise vorliegen, zeigt sie nur dieses eine dem Entführungsopfer. „Die Beschreibung, die Herr Reemtsma von dem Keller und dem Weg dorthin abgegeben hatte, war schon sehr genau“, sagt einer der Fahnder. Der erste Täter geht der Polizei nach rund einem Monat ins Netz. Aber von Drach und dem Großteil der Beute gibt es lange keine Spur.
Drach setze sich nach Uruguay ab
Fahnder beschreiben die Täter – allen voran Drahtzieher Thomas Drach – als „clevere Leute“ – clever, aber eben fehlbar. „Wir leben als Polizei in unseren Ermittlungen davon, dass die Täter Fehler machen“, sagt einer, der in der Fahndung dabei war. „Und irgendwann kriegen wir sie alle“, formuliert es Langendörfer. So war es auch bei Drach. Der hat sich mit einem Teil der Beute nach Uruguay abgesetzt.
In dem Nobelbadeort Punta del Este führt er ein luxuriöses Leben, gejagt von der Polizei und einer Sicherheitsfirma, die Reemtsma eingeschaltet hat. Es ist wie bei der sprichwörtlichen Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Zielfahnder, die Bluthunde der Polizei, überprüfen jede noch so lose Verbindung zu Drachs altem Leben.
Drach wollte auf Konzert der Rolling Stones
Familie, Freunde, Ex-Knackis – zu wem könnte der Entführer vielleicht Kontakt aufnehmen? Mit wem telefonieren? Wem schreiben? Und tatsächlich: Die Zeit macht Drach unvorsichtig. Im Gefühl, ungreifbar zu sein, ruft er einen ehemaligen Mithäftling an, schwärmt von der „größten Band der Welt“, freut sich auf ein Konzert, für das er Tickets habe. Die größte Band der Welt?
So viele gibt’s davon nicht. Die Rolling Stones spielen kurz darauf in Buenos Aires, findet die Polizei heraus – verfolgt parallel den Anruf zurück in ein Hotel in der Hauptstadt Argentiniens, wo Drachs Flucht endet. Rund zwei Jahre sitzt er bis zur Auslieferung im Jahr 2000 in einem argentinischen Gefängnis ein.
Die Täter:
Das Urteil in Hamburg: Vierzehneinhalb Jahre Haft wegen erpresserischen Menschenraubs. Da Drach noch aus dem Gefängnis in Hamburg heraus Leute anheuern will, sich um seinen Bruder zu „kümmern“ – er vermutet bei ihm einen Teil des Lösegeldes –, wird die Haft noch etwas verlängert. Aber 2013 kommt Thomas Drach schließlich frei.
Ein Jahr später stirbt einer seiner Mittäter. Der Mann stürzt in Portugal von einer Klippe in den Tod. War es ein Unfall? Selbstmord? Mord? Bis heute ist der Fall genauso wenig geklärt wie der Verbleib eines Teils der Beute. Dazu sagte Jan Philipp Reemtsma erst vor ein paar Tagen in einem Interview: „Gestürzt oder gesprungen oder in den Tod gestürzt worden? … Es ist mir wirklich ziemlich egal.“ Und die Beute?
Beute von Drach verschwunden
„Wahrscheinlich haben seine Kumpane ihn (Drach) teilweise darum betrogen, das ist irgendwo verschleudert worden, versickert, bei Geldwäsche verloren gegangen“, vermutet Reemtsma. Ähnliche Vermutungen stellt Ex-Sokochef Langendörfer an. „Bei einer solchen Beute ist es wie bei einem Lottogewinn: Man hat plötzlich einige neue ,Freunde‘.“ Langendörfer vermutet, dass ein Großteil des Lösegeldes ausgegeben wurde für die Flucht und unter anderem das Luxusleben in Uruguay. „Und vorher musste es gewaschen werden. Wenn man dabei die Hälfte wiederbekommt, ist das viel.“
Das Opfer heute:
Für ihn, sagte Reemtsma unlängst nach der jüngsten Festnahme Drachs, sei immer klar gewesen, dass „dieser Mensch … in seinem Leben nichts weiter gemacht hat, als kriminelle Handlungen zu begehen. Er weiß gar nicht, wie man anders durchs Leben kommt. Er hat buchstäblich nie etwas anderes getan. … Und er wird immer älter und ungeduldiger und gefährlicher. Das hat sich jetzt gezeigt“, sagte Reemtsma, der heute 68 Jahre alt ist.
In dem Interview erinnerte er an den Prozess gegen Drach im Jahr 2001. Hier hatte Reemtsma als Nebenkläger Sicherungsverwahrung gefordert – vergebens. „Aber es ist keine große Befriedigung, in einer solchen Sache recht behalten zu haben. Ich kann nur mit Schulterzucken sagen: Ja, ich hab’s gesagt, so wird es kommen. Genauso ist es gekommen“, so Reemtsma.
Die Medien:
Was diesen Fall auch besonders gemacht hat: Die Hamburger Medien wussten zu einem sehr frühen Zeitpunkt von der Entführung – und sie brachten: nichts (siehe Artikel auf der vorigen Seite). Eine entscheidende Rolle kam dabei dem damaligen Polizeisprecher und späteren Polizeipräsidenten Werner Jantosch zu.
Dessen Aufgabe: die Redaktionen regelmäßig zu informieren, sie einzuschwören, nicht zu berichten, und dabei den „Journalisten nicht vor den Kopf zu stoßen“, wie sich ein Beteiligter erinnert. Die Strategie ging auf, auch weil die Polizei versprach, die Medien „fair zu bedienen“, sobald das Entführungsopfer freigelassen sei.
Einer der Fahnder von damals vermutet heute, dass das immer noch präsente Gladbecker Geiseldrama acht Jahre zuvor auch zur Zurückhaltung beigetragen habe. „Viele Journalisten haben sich damals gesagt, dass sich ein solcher Fall nicht wiederholen dürfe.“
Reemtsma beschäftigte sich mit Rolle der Medien
Das Entführungsopfer beschäftigte sich in seinem Buch kritisch mit der Rolle der Medien nach der Freilassung. Über die Zeit der Entführung aber schreibt Reemtsma: „Ich darf mich nicht beklagen. In meinem Fall haben die Medien über vier Wochen geschwiegen.“
Würde das heute auch noch so funktionieren? Dass die Polizei die Redaktionen regelmäßig und proaktiv informiert – und sie so in die Pflicht nimmt zu schweigen? Auch ohne eine offizielle Nachrichtensperre? Bei der Polizei ist man skeptisch. Die Zahl der Polizeireporter sei damals recht übersichtlich gewesen, man habe sich persönlich gekannt und einander ein Stück weit vertraut, heißt es.
„Ein wahres Wunder, dass damals alle geschwiegen haben“
Und heute? Kontakt in Redaktionen und gegenseitiges Vertrauen gibt es weiterhin. Aber die Anonymität des Netzes, die oft ungeprüfte Veröffentlichung von Gerüchten und Geschwätz sowie die Sensationsgier des Publikums machten eine stillschweigende Übereinkunft nur noch schwer denkbar.
Auch der ehemalige „Stern“-Reporter und spätere -Chefredakteur Christian Krug ist skeptisch. Es erscheine aus heutiger Sicht „wie ein wahres Wunder, dass damals alle geschwiegen haben“, sagte Krug in einer ZDF-Dokumentation zur Entführung Jan Philipp Reemtsmas.