Hamburg. Moritz bietet in “„Unbekannte Seiten. Kuriose Literaturgeschichte(n)“ ein Kompendium von Gossip an. Auch Martin Walser schrieb wieder.

Wenn er selbst der einzige Zeuge ist, ist die Sache eh klar: freie Fahrt fürs Fabulieren. Aber auch sonst, bei alldem, was sich in den Biografien und sonstigen Büchern, manchmal auch Romanen, überliefert hat, ist Rainer Moritz selbsterklärt kreativ bei der Weiterverbreitung. Ein „paar kräftige Farbtöne hinzufügen“ nennt der versierte Erzähler Moritz das.

Und er tut ja auch, wie alle vor ihm, recht daran. Anekdoten werden mit jeder Ausschmückung besser, und dass sie nach jenen Farbgebungen nicht mehr wahr wären, ist nicht gesagt. Sie sind unterhaltsamer. „Unbekannte Seiten. Kuriose Literaturgeschichte(n)“ (Oktopus, 14 Euro) heißt das neue Buch des Autors und Kritikers Moritz, es ist das vorzüglich geschriebene, perfekte Vademecum für alle Park- und Strandbesuche in den nächsten Monaten.

Buchtipps: Dichter als Menschen begreifen

Buchcover
Buchcover "Unbekannte Seiten". © Kampa Verlag

Versammelt es doch genau die Art von niemals sensationellen, Aufsehen erregenden, schon gar nicht offiziellen Vorgängen, die eine Dichterin oder einen Dichter zum Menschen machen. Also durchaus intime Nebensächlichkeiten am Wegesrand großer und kleiner Schreibkarrieren. Manche – Camus als Torwart, Unseld als geplagter New-York-reisender Verleger – sind bekannt, andere überhaupt nicht.

Zum Beispiel, wie Hellmuth Karasek eine Zugverspätung vortäuschte, um in Ravensburg vor einer Lesung erst einmal königlich zu dinieren. Oder die kleine Geschichte, in der der ehemalige Hoffmann-und-Campe-Verleger Moritz nicht nur seine frühere Fahrzeugwahl (Alfa Romeo!) offenlegt, sondern auch, dass seinem von ihm nach Sylt chauffierten Autor Siegfried Lenz ein wenig unwohl wurde ob der engagierten moritzschen Fahrweise.

Moritz schreibt auch über Mann und Wilde

Dies ist das Buch, das der an Geschichten aus dem Betrieb eminent interessierte Rainer Moritz, ein Mann, der für und durch die Literatur lebt, einfach schreiben musste: ein Kompendium von Gossip aus drei Jahrhunderten Literaturgeschichte, mit Bettina von Arnim, die Goethes Frau einst eine „wahnsinnige Blutwurst“ nannte, Ernst Jünger, der mit merkwürdiger Selbstverständlichkeit nicht nur das falsche Hotel betrat, um erst im Zimmer zu merken, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt, mit Thomas Mann, Anna Seghers, Oscar ­Wilde und vielen mehr. Man darf vermuten, dass Autoren-Lesungen aus diesem Buch kurzweilige Abende sein werden.

Buchcover 
Buchcover "Das Traumbuch - Postkarten aus dem Schlaf". © Rowohlt Taschenbuch Verlag

Bleiben wir bei den Giganten: Von Martin Walser, dem großen alten Alemannen, 95 ist er gerade geworden, gibt es, Potztausend, schon wieder ein neues Buch. Ein sehr schönes, das aber einer gewissen Komik nicht entbehrt. „Das Traumbuch“ (Rowohlt, 24 Euro) ist optisch ansprechend geraten, weil die Künstlerin Cornelia Schleime Träume des Meisters zu Bildern hat werden lassen. Natürlich kam die Berlinerin nicht umhin, einen Penis zu malen.

Buchtipps: Träume sind auch Literatur

Wie sollen Nachtgedanken nicht phallisch organisiert sein? Germanisten wissen übrigens: Traumdeutung und Textdeutung haben viel gemein. Womit Träume also auch Literatur sind. Aber Walser nun tatsächlich bis ins Letzte für sein Werk ausquetschen? Kann man natürlich machen, es ist ja sein Schriftstellerhirn, das da träumte.

Aber ein Sprach-Kunstwerk sollte man nicht erwarten, eher die Bestätigung, dass auch bei Walser im Unbewussten reinstes Chaos („Arnold Stadler, er kommt zu mir her. Legt sich auf mich und sagt: Du miesepetriges Weib!“) herrscht.

Der Schwiegersohn Edgar Selge taucht hier auf; neben anderen VIPs wie Brecht, Frisch, Reich-Ra­nicki: „Ein kurzes Gefecht mit den Stöckchen. Ich verliere irgendwie.“ Ein alles in allem gerechter Traum. Mit der Psychoanalyse hat Walser freilich nichts zu schaffen, für ihn sind Träume Schäume des Egos.