Hamburg. Der Kulturphilosoph Jean-Pierre Wils hat mit „Der Große Riss“ einen Essay zur Corona-Pandemie geschrieben. Nun geht es auch um Krieg.
Seit Jahren gehört Jean-Pierre Wils zu den einflussreichsten Philosophen im deutschsprachigen Raum. Wils, auch studierter Theologe, lehrt als Professor Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud-Universität Nijmegen und pendelt von seinem Wohnsitz Kranenburg am Niederrhein mehrmals wöchentlich zu seinem niederländischen Arbeitsort. Der Belgier Wils, der zuletzt am Reformationstag auf Einladung der Nordkirche in Hamburg sprach, hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Seinen neuen, erkenntnis- und umfangreichen Essay zur Corona-Pandemie, „Der Große Riss. Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen“, schrieb er mit „der Neugier des Philosophen“, sagt er.
Anders als aus der üblichen akademischen Distanz sei er selbst, wie alle anderen Bürger „im Griff der Pandemie“ gewesen. „Was mir allerdings sehr widerstrebte, waren die vollmundigen Schnellschüsse, die aus den Pistolen von einigen Zukunftsforschern und Meisterdiagnostikern abgegeben wurden. Einige hatten die Pandemiefolgen bereits im Kasten, bevor diese das Land überhaupt erreicht hatte“, kritisiert Wils. Angesichts des Ukraine-Kriegs verstärke sich das „permanente Begleitgefühl“ der Ohnmacht.
Eine Polarisierung erlebte unsere Gesellschaft ja schon vor Corona. Sie bezeichnen die Pandemie in Ihrem Buch als „Brennglas“. Was sind die für Sie bis heute signifikantesten Beispiele, etwa die Trennung in Impf-Befürworter und -Gegner bzw. -Verweigerer?
Jean-Pierre Wils: Unter dem „Brennglas“ der Pandemie zeigten sich vielerlei Spannungen bis Spaltungen, die allesamt mit dem sozialen Ungleichgewicht in unserer Gesellschaft zu tun haben – mit der Kluft zwischen Lohn- und Profitabhängigen, zwischen den Beschleunigten und den Sitzengebliebenen. Der plötzliche Stillstand machte auf einen Sog nach unten, auf eine Abwärtstendenz aufmerksam. Der Widerstand gegen dieses Empfinden verursachte Aggressionen. Allerdings hat mich das Ausmaß an absurden Alternativsichten auf die Pandemie sehr überrascht. Man kann über einige Maßnahmen unterschiedliche Meinungen hegen, aber einige Verschwörungstheorien und vielerlei Feindschaften gegen Wissenschaft und Krisenpolitik lassen sich nur als Selbstauslöschung der Vernunft charakterisieren.
Haben speziell wir Deutschen verlernt, gepflegt zu streiten, dem anderen zuzuhören, auf ihn oder sie einzugehen?
Das glaube ich eher nicht. Deutschland verfügt über eine ausgeprägte Debattenkultur, über Zeitungen und Medien, die deren hohes Niveau gewährleisten. Die Gewaltbereitschaft erklomm im Laufe der Zeit immer mehr Stufen. Zu manifester Gewalt kam es allerdings eher selten. Gott sei Dank.
Im Buch-Kapitel „Der Ausnahmezustand als Alltag“ erwähnen Sie, dass der infizierte Souverän, das Volk, an zeitweiligen Einschränkungen der Freiheitsrechte litt und die „Folgen dieser psychischen, sozialen und wirtschaftliche Zumutungen“ sich noch nicht abschätzen ließen. Sind Sie inzwischen weiter mit Ihren Überlegungen?
Die zeitweiligen Einschränkungen von Grundrechten sind immer eine Zumutung, denn Demokratien sind freiheitsliebend – oder sie sind keine. Viele Menschen haben aber seltsame Freiheitsauffassungen, so, als sei Freiheit nicht nur ein fundamentales, sondern auch ein schrankenloses Gut. Aber gewiss, zahlreiche Bürger zahlen einen hohen Preis für die Pandemiefolgen. Im internationalen Vergleich schneiden wir „per saldo“ nicht schlecht ab, aber es trifft natürlich immer den Einzelnen und nicht einen abstrakten anderen. Viel zu viele haben mit ihrem Leben bezahlt.
Mehr Angst als Corona macht vielen Menschen in Deutschland und Europa jetzt der Angriffskrieg Putins in der Ukraine. Weil wir uns machtloser fühlen als beim persönlichen Schutz vor Corona und die Ängste ganz andere sind?
Ohnmacht war ein permanente Begleitgefühl in den vergangenen zwei Jahren, das erst geringer wurde, als uns Impfmittel zur Verfügung standen. Ohnmächtiger fühlen wir uns angesichts des Putin-Krieges wegen des gewaltigen Unrechts, das nun geschieht, angesichts der unvorstellbaren Zerstörungswut, die sich zeigt. Ein Quäntchen Trost ist immerhin die enorme Hilfsbereitschaft. Hier wird das Beste in uns mobilisiert. Es wäre schön, wenn uns davon auch in normaleren Zeiten etwas erhalten bliebe ...
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Kann die große Hilfsbereitschaft gegenüber der ukrainischen Bevölkerung, kann ein äußerer Feind wie Putin, dazu dienen, unsere Gesellschaft wieder zu einen?
Das zu vermuten wäre voreilig. Aber wir werden uns vielleicht etwas leichter als zuvor auf einige Grundsätze gedeihlichen und gerechten Zusammenlebens einigen können. Das hoffe ich jedenfalls sehr.
Trägt die brisante Lage denn dazu bei, umso mehr zu beherzigen, was Sie in Ihrem Buch „Resilienz der Lebensstilpolitik“ nennen? Heißt das auch für das Individuum mehr Verzicht im Materiellen, mehr Hinwendung zum Kulturellen?
Wir werden bescheidener werden müssen, weniger übermütig und zukunftsblind, uns von einigen Globalisierungsträumereien und Konsumparadiesen trennen, unsere Bedürfnisse auf den Prüfstand stellen, eine Mikropolitik vor der Haustür beginnen. In Abwandlungen eines berühmten Slogans: „Mehr Solidarität wagen!“
Und müssen wir unsere Zeiten außer in „Vor Corona“ jetzt auch in „Vor dem Ukraine-Krieg“ und jeweils danach unterscheiden?
Es wäre schön, wenn wir die Unterscheidung „vor“ und „nach dem Ukraine-Krieg“ bereits vornehmen könnten …