Hamburg. Der russischstämmige Dirigent Bychkov emigrierte 1975 aus der Sowjetunion. Nun bricht er zum zweiten Mal mit seiner Heimat.
Als er 1975 aus der damaligen Sowjetunion in die USA ging, war Semyon Bychkov 22, ein junger Dirigent, der nur raus wollte. „Damals fragte man mich: warum? Weil ich frei sein wollte. Diese Antwort hat sich nicht geändert.“ Jahrzehnte später, kurz nach Beginn von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine war Bychkov einer der ersten Musiker, der ohne jedes Wenn, Aber oder Vielleicht die Attacke verurteilte, ebenso Äußerungen oder Nicht-Äußerungen anderer russischer Künstlerinnen und Künstler kritisierte: „Schweigen im Angesicht des Bösen wird zu dessen Komplizen und endet damit, ihm ebenbürtig zu sein. Jetzt zu schweigen heißt, unser Gewissen und unsere Werte zu betrügen, und letztlich auch das, was die Würde der menschlichen Natur ausmacht.“
Bychkov war gerade in Prag, einer Stadt, die noch sehr genau weiß, wie es ist, russische Panzer in ihren Straßen zu erleiden. Dort ist er seit vier Jahren Chefdirigent der Philharmonie. Sowohl er und sein Orchester meldeten sich zu Wort, sie hissten die blau-gelbe Fahne der Ukraine auf dem Rudolfinum und spielten unter ihrem Dach deren Hymne, einige Tage später gab es eine Demonstration („ein Menschenmeer!“) auf dem sehr historischen Wenzelsplatz, auch Bychkov sprach dort, in eisiger Kälte. Alles Selbstverständlichkeiten für ihn.
Semyon Bychkov: "Wir reden hier über einen Völkermord"
Der musikalische Weltbürger Bychkov weiß genau um die schwierigen Umstände in Russland, und unterscheidet deswegen auch genau in seiner Kritik von Schweigenden: „Man sagt ja gern, dass Kunst und Politik nicht vermischt werden sollen. Absolut richtig. Aber wir reden hier nicht über Politik. Politik dreht sich um das natürliche, tägliche Leben einer Gesellschaft. Wir reden über eine Angelegenheit auf Leben und Tod. Über einen Völkermord, der an einer Nation begangen wird, die niemanden bedroht. Und das nur, weil sie frei und unabhängig sein will.“
Beim Video-Gespräch mit Bychkov in einem Wiener Hotel dauert es, wenig überraschend, keine fünf Minuten, bis Schwieriges und Grundsätzlichstes Thema ist: „Jeder Mensch muss sich entscheiden, wie er sich verhält oder nicht. Ich sage niemandem, was er tun soll. Ich sage nur, was ich fühle. Sich künstlerisch auszudrücken, ist etwas Spirituelles, daraus erwächst eine gewisse Verantwortung.“
"Das Leben besteht nicht nur aus Schwarz und Weiß"
Gibt es einen moralischen Unterschied zwischen dem chronisch putintreuen Verhalten des Dirigenten Valery Gergiev, auch weil er Teil und Kopf großer Kulturproduktions-Apparate ist, und der selbstständigen Sopranistin Anna Netrebko? „Komplexe Frage, darüber habe ich viel nachgedacht. Das Leben besteht nicht nur aus Schwarz und Weiß. ,Ich bin gegen alle Kriege’, das sagt sich sehr leicht. Aber dann muss man sich entscheiden: Bin ich dagegen und sage es, unterstütze ich ihn, oder äußere ich mich nicht?“, denkt Bychkov laut.
„Wenn man tief mit dem Regime verbunden ist, das einem alle Arten Privilegien und Titel verleiht, wenn Riesenfirmen einen unterstützen – dann schuldet man dafür etwas. Irgendwann wird der Moment kommen, in dem diese Schuld eingefordert wird. Seit 1975 bin ich eine freie Person, ich schulde weder einem Regime, einer Firma oder einem Land irgendetwas. Die einzigen, in deren Schuld ich stehe und die ich dankbar ein Leben lang abbezahle, sind meine Familie, meine Lehrer und meine Unterstützer.“
Vadim Repin bei Konzert ersetzt
Ist Nicht-Widersprechen schon als unausgesprochene Unterstützung anzusehen? Ein junger russischer Pianist wurde gerade in Kanada prophylaktisch ausgeladen, der Geiger Vadim Repin bei einem Konzert in Maryland ersetzt, wegen seiner „unpolitischen Haltung“ und aus „Sicherheitsbedenken, für ihn und seine Familie“. So weit sind wir, jetzt schon?
Bychkov fragt zurück: „Kennen Sie den militärischen Ausdruck Kollateralschaden? Ich hoffe sehr, dass wir als Gesellschaft genügend Reife entwickeln, um zu erkennen, dass beispielsweise das Absagen von Mussorgskys Oper ,Boris Godunov’ in Warschau niemandem hilft.“ Aber diese „enormen moralischen Kollateralschäden“ gibt es nun, sie würden das Argument zunichte machen, dass Kultur Bücken baut. „Wir sehen jetzt das genaue Gegenteil, sie werden gewissermaßen gesprengt.“
Rostropowitsch wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt
Zu den akuten Karriere-Abbrüchen von denen, die eindeutig auf dieser anderen Seite stehen und dort „moralische Kollaboration“ begehen, hat er eine klare Meinung: „Das kommt auf sie an. Sollten sie eines Tages feststellen, dass sie mit ihrer Duldung Fehler begangen haben, können wir als Gesellschaft das womöglich verstehen. Vergessen vielleicht nicht, aber vergeben: ja. Das können wir, hoffe ich zumindest. Wenn etwas durch Schreckliches befleckt ist, kann man das nicht reinwaschen. Gott kann vergeben, wir können die Opfer nicht vergessen.“
Weil alles allem zusammenhängt, verweist Bychkov weit zurück, auf den damals gottgleich verehrten Cellisten Mstislav Rostropowitsch. Unglaubliche Privilegien, alle Türen standen offen. Bis er sein Landhaus dem Regimekritiker Solchenizyn anbot. „Niemals hätte Rostropowitsch gedacht, dass ihm das Regime etwas anhaben würde.“ Sein Fall war tief, während einer Auslandstournee erfuhr er, dass ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt worden war. „Er wollte nie gehen. Er musste mit seinem Gewissen leben. Er tat, was er für richtig hielt.“
„Paavos Statement hat mich sehr berührt"
Vor kurzem hielt der estnische Dirigent Paavo Järvi es für richtig, in Moskau ein Konzert mit dem Nationalen Jugendorchester zu dirigieren. Bychkov hält es für genauso richtig, dass er seinen Sommer-Termin dort abgesagt hat. „Paavos Statement hat mich sehr berührt. Völlig unmissverständlich hat er den Krieg verurteilt – und er sagte, dass er bereits mit diesen jungen Menschen Musik gemacht hat, die komplett verwirrt waren und unter Schock standen. Wir Musiker fühlen einander. Es gibt eine menschliche Verbindung, wenn man miteinander Musik spielt. In diesem Moment konnte Paavo sie nicht verlassen, das finde ich sehr nobel.“ Er dagegen habe vor zwei Jahren für Juni zugesagt. Völlig andere Lage, kein einfaches Schwarz oder Weiß.
Seit dem Fall der Berliner Mauer, seit dieser Begeisterung, sich tatsächlich befreit zu haben, habe Bychkov ein solches Gefühl von Einheit zwischen Menschen nicht mehr erlebt, bis diese Invasion losbrach. Was jetzt passieren müsste, ist klar. Was passieren wird, insbesondere in seiner, der Klassik-Welt?
Bychkov: „Ich liebe die Menschen, ich liebe die Kultur"
„Die Reaktion auf diese enormen Gefühle, die Abscheu gegenüber den Ereignissen, führt zu Spaltung und neuen Formen von Ungerechtigkeit“, antwortet Bychkov, „all das wird in den nächsten Tagen nicht verschwinden. Historisch wird unausweichlich sein, dass das Böse sich selbst zerstört, von innen heraus. Es ist eine Frage der Zeit, ich bete, dass sie kurz sein wird.“
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Als er damals emigrierte, in den Zeiten von Breschnew und politischer Verfolgung, habe er sich nie vorstellen können, jemals wieder zurückzukehren. Irgendwann würde dieses System zusammenbrechen, war Bychkov sich sicher. „Ich liebe die Menschen, ich liebe die Kultur, ich stamme von dort, das sind meine Wurzeln.“ Als diese Tragödie begann, war ihm klar, „dass ich zum zweiten Mal in meinem Leben diesen Bruch vollziehe.“ Vielleicht sogar zum letzten Mal, weil es wohl zu lange dauern werde, bis tatsächlicher Wandel einsetzt. „Das habe ich akzeptiert“, berichtet Bychkov, „ich muss mit meinem Gewissen leben.“
Semyon Bychkov: „Große Kunst und Musik veredelt uns"
Bleibt noch zu erfahren, wie jetzt für ihn dieser Satz enden würde: „In Zeiten wie diesen schafft Musik es...?“ Kurz und knapp ginge das leider nicht, kommt aus Wien aus dem Zoom-Fenster zurück, doch die erste Antwort ist schon die klarste. „Große Kunst und insbesondere Musik veredelt uns. Sobald ich mich mit Musik beschäftige, bei Proben, beim Studieren, bei Aufführungen, empfinde ich mich als besseren Menschen. Und in Zeiten existenzieller Krisen wächst diese Notwendigkeit ins Unendliche. Wir brauchen etwas, das uns aufrechterhält.“