Hamburg. Falk Richter bringt am Sonnabend Édouard Louis’ „Die Freiheit einer Frau“ im Schauspielhaus auf die Bühne. Was ihn daran fasziniert.

Es ist eine traurige Geschichte. Und es ist trotzdem die Geschichte einer Befreiung – aus der Gewalt, der Hoffnungslosigkeit, der Demütigung, aus einer Gesellschaftsschicht ohne Perspektive. Nach seinem schmerzhaft-radikalen Debüt „Das Ende von Eddy“ hat der international gefeierte französische Bestsellerautor Édouard Louis weitere Selbsterforschungswerke nachgelegt, der zuletzt erschienene und im Vergleich verblüffend zärtliche Band „Die Freiheit einer Frau“ ist seiner Mutter gewidmet.

Der Hamburger Regisseur Falk Richter, der sich hier zuletzt in seiner Jelinek-Inszenierung „Am Königsweg“ und der Houellebecq-Uraufführung „Serotonin“ ebenso klug wie süffisant mit der Gegenwart beschäftigte (und nicht zuletzt mit einer toxischen Männlichkeit, die mit all dem mehr zu tun hat, als manch einer vielleicht glaubt), holt den Stoff nun auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses. Am Sonnabend ist Premiere.

Hamburger Abendblatt: Édouard Louis arbeitet sich in seinen Büchern schonungslos an seiner persönlichen Lebensgeschichte ab. Auch Sie beschäftigen sich in Ihrem letzten Stück „In my room“ mit Ihrem eigenen Vater und blicken nun – mit Louis – zur Figur der Mutter. Worum geht es Ihnen?

Falk Richter: Mich hat diesmal die Frage nach der Rolle der Frau interessiert. Als ich Édouards Roman gelesen habe, war ich zunächst davon ausgegangen, dass er die Generation meiner Eltern beschreibt. Ich war richtig schockiert, als ich realisiert habe, dass seine Mutter nur zwei Jahre älter ist als ich. Wahrscheinlich hatte ich gehofft, dass die Frauen meiner Generation das so nicht mehr erleben müssen. Das ist natürlich eine Klassenfrage! Was ich allerdings aus meiner eigenen behüteten Kindheit im näheren Umkreis von Hamburg kenne: Keine einzige Mutter hat gearbeitet. Nicht für Geld. Die Väter sind immer morgens in ihre Mercedes gestiegen und in ihre Büros nach Hamburg gefahren, die Mütter haben gekocht, gewaschen und die Kinder gefahren, zum Sport oder zum Klavierunterricht. Sie waren Pflegekräfte, Dienstboten, Putzfrauen. Die Idee, dass eine Frau sich beruflich verwirklichen könnte, gab es kaum. Es hat sich viel geändert, was Frauenrechte angeht – umso interessanter fand ich es zu untersuchen, was noch vor kurzer Zeit als „normal“ galt. Édouard Louis beschreibt die gesellschaftlichen Ursachen. Er sieht zugleich seine Mutter nicht nur als Opfer, sondern auch als Komplizin des Vaters. Sie sagt ihrem eigenen Sohn, er solle nicht so gelehrt daherreden, als er aufs Gymnasium wechselt. Die ganze Familie sieht ihn als Verräter.

Falk Richter: Arbeiterschicht wählt nicht mehr die Linke

Bei der französischen Autorin Annie Ernaux, die wie ihre Bestseller-Kollegen Didier Eribon und Édouard Louis über die eigene Mutter geschrieben hat, fällt der Satz „Manchmal stand ihr in Gestalt ihrer Tochter der Klassenfeind gegenüber“. Das könnte fast wortgleich auch hier stehen.

Richter: Absolut. Ich nehme im Moment bei uns nicht so prominente Stimmen aus der Arbeiterklasse wahr. Sowohl Eribon als auch Louis sind ja selbst Arbeiterkinder. Jetzt gehören sie zur intellektuellen Oberschicht Frankreichs. Beide hat fasziniert, von der Perspektive aus zurückzugucken: Wie stark sind in westlichen Gesellschaften die Klassengrenzen? Was folgt daraus? In Frankreich ist die Arbeiterschicht davon abgerückt, die Linke zu wählen. Sie hat sich stattdessen dem Front Nationale zugewandt. So stark, dass der tatsächlich die Chance hat, mit Marine Le Pen die nächste Präsidentin zu stellen. Die Arbeiterschicht lässt sich mit Botschaften wie „Die Ausländer sind schuld“ oder „Der Gender-Gaga ist schuld“ fangen.

Rechte in Frankreich stärker als in Deutschland

Inwieweit lässt sich die Situation auf Deutschland übertragen?

Richter: Die radikale Rechte ist in Frankreich noch stärker als in Deutschland. Oder zumindest: stärker als in Westdeutschland. Die Grenzen zwischen den Klassen sind aber hier auch undurchlässig. Die Möglichkeit aufzusteigen ist in Deutschland seit 20 Jahren unheimlich schwer. Schülerinnen und Schüler, die aus der Arbeiterklasse oder aus migrantischen Familien stammen, werden immer wieder bei gleicher Leistung von Lehrerinnen und Lehrern schwächer eingestuft als solche, deren Eltern einen Universitätsabschluss haben. Édouard Louis untersucht, wie es dazu kommt, aber auch wie sich die Klasse – vor allem die Männer – selbst den Ausweg blockiert.

Falk Richter: Louis wurde gemobbt und verprügelt

Dieser Aspekt ist spannend: Der Begriff „Aufsteiger“ ist ja eigentlich positiv besetzt. Édouard Louis benutzt aber das markante Wort „Klassenflüchtling“.

Richter: Er beschreibt, wie Frauen und Homosexuelle in seiner Schicht körperlicher Gewalt und verbaler Erniedrigungen ausgesetzt sind. Flucht war für ihn, der ständig gemobbt und verprügelt wurde, weil er kein „richtiger Junge“ war, die einzige Überlebenschance. Aus dieser besonderen Situation heraus beobachtet er andere Männer anders: Deren Definition ihrer „Männlichkeit“ erfolgt fast immer über die Ablehnung des Weiblichen: Bücher, Bildung, Kino, das gilt alles als „Weiberzeug“. Die Männer gehen nicht zum Arzt, weil sie glauben, dass „harte Männer“ keinen Arzt brauchen – was bisweilen, wie bei Édouard Louis’ Vater, dann zur Arbeitsunfähigkeit führt.

Das Prinzip „Du sollst es mal besser haben als wir“, in dem Eltern gewissermaßen für den Aufstieg der Kinder leben, gilt hier nicht?

Richter: Genau, die Eltern sind Blockierer. Durch einen Aufstieg der eigenen Kinder haben sie das Gefühl, weniger wert zu sein. Man hat einen Hass auf „die da oben“.

Kritik am toxischen Männerbild

Steckt darin dieselbe Elitenverachtung, die ja nicht nur in Frankreich erfolgreich von den Rechten instrumentalisiert wurde, wie bei uns?

Richter: Louis beschreibt ein sehr spezielles Milieu. Keine stolze Arbeiterschaft, sondern Hilfskräfte, Ungelernte, Kleinkriminelle. Er kritisiert das toxische Männerbild, das dort vorherrscht. Die homophobe, frauenverachtende Männlichkeit führt dazu, dass alles verhindert wird: die Freiheit der Frauen und Töchter, aber auch der Aufstieg der Söhne.

Ist diese „toxische Männlichkeit“ noch immer ein unterschätztes Thema?

Richter: Ja, in jedem Fall. Es wirken gerade zwei Kräfte: Das eine ist die Gleichberechtigung, die Teilhabe an der Gesellschaft, natürlich passiert da viel. Im Vergleich zu meinen Anfangszeiten am Theater – und ich habe hier in Hamburg mit 24 Jahren am Thalia angefangen – gibt es natürlich viel mehr Regisseurinnen und Intendantinnen, und es gibt ja auch viel mehr sichtbare Politikerinnen und Frauen in leitenden Positionen. Aber die patriarchalen Strukturen schlagen zurück und versuchen ihre Privilegien zu retten. Überwunden sind die nicht.

Viele Frauen an Produktion beteiligt

Interessant ist, dass Édouard Louis sich selbst als Beobachter seiner Mutter in Frage stellt: „Kann ich ihr Leben verstehen, das doch spezifisch durch den Umstand geprägt ist, dass sie eine Frau ist?“ Jetzt ist am Schauspielhaus nicht nur der Autor ein Mann, sondern mit Ihnen auch der Regisseur. Macht das was?

Richter: Er führt dann weiter aus, dass er aufgrund seiner Homosexualität von den anderen Männern in seinem Dorf nie als „echter Mann“ angesehen wurde, und ähnliche Gewalterfahrungen gemacht hat, wie seine Mutter. Und genau das, sagt er weiter, lässt ihn seiner Mutter näher sein und eine ähnliche Perspektive einnehmen: Die Perspektive derjenigen, die keine Macht über andere ausüben können. Davon abgesehen habe ich viele Frauen in der Produktion! Eva Mattes, die die Mutter heute spielt, Josefine Israel als die junge Mutter, außerdem stehen Bernadette La Hengst und ihre beiden Musikerinnen auf der Bühne, die von Katrin Hoffmann entworfen und von Anette ter Meulen geleuchtet wird, Beate Heine macht Dramaturgie – alles starke, erfolgreiche Frauen, die alle sehr interessiert an der Geschichte der Befreiung dieser unterdrückten Frau sind und sich inhaltlich sehr stark einbringen.

Louis wünscht sich gesellschaftliche Veränderung

Bei Karin Beier haben Sie unter anderem den Roman „Serotonin“ von Michel Houellebecq auf die Bühne gebracht. Noch ein französischer Bestsellerautor, der allerdings ein komplett anderes Frauenbild pflegt. Édouard Louis, mit dem Sie damals darüber diskutierten, war nicht einverstanden, dass Sie den Houellebecq-Roman inszenieren und diesem Weltbild so viel Raum geben...

Richter: Houellebecq hat etwas enorm Destruktives. Er hat so eine Lust daran, abzukotzen. Édouard Louis ist viel heller, konstruktiver. Er hat den Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung, nach einer Würdigung von Gruppen, die nicht im Zentrum der Macht sitzen: Frauen, schwule Männer, migrantische und arme Menschen. Houellebecq macht diese Gruppen lächerlich.

Ist es leichter oder schwieriger einen Stoff zu inszenieren, dessen Weltsicht Ihnen persönlich näher ist?

Richter: Die Reibung entsteht bei mir zwischen den Figuren. Die Kämpfe, die Mutter und Sohn austragen, sind heftig und berührend. Ich empfinde es als angenehm, als Regisseur meine Figuren zu mögen. Eva Mattes strahlt so eine Wärme aus – und sie spielt trotzdem eine Frau, die nicht nur liebenswert ist, die ihren Sohn verletzt, ungerecht behandelt, herabwürdigt. Und auch Édouard erzählt von den Wunden, die er seiner Mutter zugefügt hat. Am Ende geht es ihm darum, sich gemeinsam mit seiner Mutter aus einer als schrecklich empfundenen Vergangenheit zu befreien und sich einander wieder neu und respektvoll und gewaltfrei anzunähern.

Édouard Louis besucht Premiere in Hamburg

Édouard Louis kommt zur Premiere nach Hamburg – kommt seine Mutter denn auch?

Richter: Das wäre schon toll. Es kommen auf jeden Fall viele Mütter von anderen Beteiligten der Produktion. Die Arbeit hat da viel Reflektion mit der eigenen Geschichte ausgelöst.

Uraufführung „Die Freiheit einer Frau“, Deutsches Schauspielhaus, Premiere am Sa 5.3., wieder am Di 8.3. und Sa 19.3., jew. 19.30 UhrLesung/Gespräch mit Autor Édouard Louis und Regisseur Falk Richter heute, 4.3., um 19.30 Uhr, Karten unter www.schauspielhaus.de