Hamburg. Der Star-Dirigent gilt als enger Bewunderer von Putin. Deshalb drohen ihm jetzt Rauswürfe in Hamburg, München und Mailand.

Diese Reaktion kam schnell: Am Donnerstag gegen 16 Uhr New Yorker Ortszeit gab die Carnegie Hall bekannt, dass die drei Gastspielkonzerte der Wiener Philharmoniker in den nächsten Tagen ohne Valery Gergiev stattfinden werden. Als Ersatz wurde Yannick Nézet-Séguin verkündet, als Musikdirektor der New Yorker Met eine nahe liegende Lösung. Ebenfalls weg von dieser Prestige-Bühne: der russische Pianist Denis Matsuev.

Die Wiener Philharmoniker hatten sich zunächst diplomatisch um Schadensbegrenzung bemüht: „Die Kultur darf nicht zum Spielball von politischen Auseinandersetzungen werden“, so Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer in einem Statement, in dem er zugleich jede Art von Gewalt und Krieg verurteilte: „Die Musik hat für uns immer etwas Verbindendes und nichts Trennendes.“

Krieg in der Ukraine: Gergiev bewunderte Putin

Diese Ausladungen könnte der Auftakt für eine Kettenreaktion in der Kulturwelt sein, denn der auf enorm vielen Hochzeiten dirigierende Gergiev ist seit vielen Jahren enger Bewunderer und Nutznießer des Systems Putin. Das gilt auch – einige Gehaltsklassen tiefer – für Matsuev. Nun, nach Putins Angriffskrieg auf die Ukraine, sind die beiden die ersten, sehr prominenten Beispiele für einen Sinneswandel, diese Haltung nicht länger dulden und womöglich auch noch mitfinanzieren zu wollen. Auf Twitter wurde bereits der Hashtag #CancelGergiev eingeführt.

Ob Matsuev am 15. und 16. Mai als Brahms-Solist in den Philharmonischen Konzerten unter Leitung von Generalmusikdirektor Kent Nagano in der Elbphilharmonie teilnehmen wird, lässt sich noch nicht absehen. „Die künstlerische Leitung ist in intensiven Gesprächen zu dem Thema“, ließ die Pressestelle des Orchesters am Freitag wissen.

Oberbürgermeister setzte Gergiev ein Ultimatum

Für Gergievs Verbleib bei den Münchner Philharmonikern, deren Chefdirigent er seit 2015 ist, tickt inzwischen die Uhr. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) setzte ihm am Freitag ein Ultimatum: „Ich habe ihn aufgefordert, sich ebenfalls eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg zu distanzieren, den Putin gegen die Ukraine und nun insbesondere auch gegen unsere Partnerstadt Kiew führt. Sollte sich Gergiev bis Montag nicht klar positioniert haben, kann er nicht länger Chefdirigent bleiben.“

Die MPhil-Pressestelle teilte dazu mit, Reiters Worte entsprächen der Haltung des Orchesters, man habe dem nichts hinzuzufügen. Sollte Gergiev diesen Posten in der nächsten Woche verlieren, hätte sich damit der gemeinsame Auftritt am 14. Mai in der Elbphilharmonie definitiv erledigt, hieß es weiter. Bislang ist geplant, dass Gergiev Schostakowitschs hochpolitische 7. Sinfonie dirigieren soll, die während der Belagerung Leningrads entstand. „Diese Konstellation hat uns umgetrieben“, erklärte Philharmoniker-Pressesprecher Christian Beuke.

Auch Elbphilharmonie stellt Star-Dirigent ein Ultimatum

Sichtbare Bewegung kommt nun auch in die Chefetage der Elbphilharmonie. „Valery Gergiev ist ein wichtiger künstlerischer Partner und langjähriger Freund. Daher hoffe ich inständig, dass er dieser Tage ein Zeichen der Distanzierung von dem Überfall Russlands auf die Ukraine setzen wird“, teilte Generalintendant Christoph Lieben-Seutter mit. „Andernfalls werden die für die Osterwoche geplanten Konzerte des Mariinsky-Orchesters aus St. Petersburg in der Elbphilharmonie nicht unter seiner Leitung stattfinden können.“

Zum Konzert von Anna Netrebko und Yusif Eyvazov in der kommenden Woche stehe man im Gespräch mit dem verantwortlichen Veranstalter. „Im Übrigen sollten wir gerade jetzt auf die völkerverbindende Kraft von Musik, Theater und anderen Künsten bauen, denn dieser Krieg ist kein Krieg des russischen Volkes. Es darf Putin nicht gelingen, uns die russische Kultur zu verleiden und uns dazu zu bringen, russische Künstlerinnen und Künstler zu boykottieren.“

Schweiz sagt Konzerte noch nicht ab

Für die Mailänder Scala ist Gergiev demnächst ein „maestro non grata“, falls er nicht unmissverständlich gegen Putins Gewaltausbruch Stellung bezieht. Noch liegt in Mailand keine Reaktion Gergievs vor, um den Rauswurf aus der Neuinszenierung von „Pique Dame“ zu verhindern. Die nächste Vorstellung findet am 5. März statt.

In der traditionell auf Neutralität bedachten Schweiz ist Gergiev eine bewährte Pult-Größe: „Das Lucerne Festival hat mit Gergiev eine schöne Partnerschaft aufgebaut, das war unabhängig von seiner Position in Russland: Er ist ein großer Künstler“, sagte Intendant Michael Haefliger den Zeitungen der „CH Media“: „Wir betrachten die Situation mit grosser Sorge, warten aber ab. Im Moment gibt es keinen Grund, die zwei Konzerte im August abzusagen.“

„Wir sind schockiert über den Kriegsausbruch"

Gergiev ist außerdem Chef des Festivalorchesters beim Verbier Festival. Ende März stehen zwei Vorstellungen mit Anna Netrebko als Lady Macbeth auf dem Spielplan der Oper Zürich. In einer offiziellen Erklärung des Hauses ist zu lesen: „Uns liegen keinerlei Informationen darüber vor, wie sich Frau Netrebko zur Ukraine-Krise insgesamt und zur aktuellen Lage positioniert. Das Opernhaus Zürich hat einen bindenden Arbeitsvertrag mit Frau Netrebko. Für uns als Arbeitgeber existiert keine rechtliche Grundlage, Mitarbeitende nach ihrer politischen, religiösen oder sexuellen Orientierung zu befragen.“

Das Festspielhaus Baden-Baden, das seit 2019 der ehemalige Laeiszhallen-Chef Benedikt Stampa leitet, ist ein weiteres wichtiges Karriere-Spielbein für Gergiev. Im Juli stehen Konzerte mit dem Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters im Spielplan. Stampa erklärte: „Wir sind schockiert über den Kriegsausbruch und beobachten die Entwicklungen um Gergiev genau. Er ist einer der zentralen kulturpolitischen Akteure Russlands. Wir erwarten von ihm daher eine klare Stellungnahme gegen ,Putins Krieg’ in der Ukraine. Natürlich werden wir ihm die Gelegenheit geben, sich zu äußern“, so Stampa.

„Die russische Kultur ist vielfältig"

Und er gibt zu bedenken: „Die russische Kultur ist vielfältig und mit ihr solche geschichtsträchtigen Einrichtungen wie das Mariinsky-Theater. Es ist uns wichtig, dorthin weiter Brücken zu bauen. Wir werden die rote Linie, die derzeit um Gergiev als politische Person gezogen wird, mit tragen und solidarisch mit allen Demokratinnen und Demokraten im Sinne einer klaren Haltung agieren.“

Protest mit Noten kündigte Vladimir Jurowski, der russische Chefdirigent des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters, an: Er änderte das Programm seines Konzert an diesem Wochenende – statt des „Slawischen Marschs“ von Tschaikowsky wird Jurowski die ukrainische Hymne auf eine Melodie von Mychajlo Werbyzkyj (1815-1870) und dessen „Sinfonische Ouvertüre Nr. 1“ dirigieren. Textgrundlage für die Hymne ist ein patriotisches Gedicht mit dem Titel „Die Ukraine ist noch nicht tot“. Der gebürtige Moskauer erklärte, er habe den Angriff gegen die Ukraine bis zuletzt nicht für möglich gehalten.

Könnte Gergiev mäßigend auf Putin einwirken?

„Ich bin zutiefst entrüstet, aber auch extrem traurig, weil ich durch meine Familiengeschichte mit beiden Ländern verbunden bin.“ Sein Großvater war der ukrainische Komponist Wladimir Michailowitsch Jurowski. Auch die Dortmunder Philharmoniker planen demonstrativ um: Ihr „Mütterchen Russland“-Konzert am 15. März soll ebenfalls mit der ukrainischen Nationalhymne beginnen, einen anderen Namen und ein geändertes Programm erhalten.

Christian Kuhnt, Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals, bei dem Gergiev immer wieder gastierte, findet: „Jeder, auch in der Musikbranche, muss jetzt versuchen, Einfluss zu nehmen. Gergiev ist ein enger Freund des Festivals. Er hat vielleicht die Chance, auf Putin mäßigend einzuwirken.“

Krieg in der Ukraine: Genereller Boykott „grundverkehrt"

Burkhard Glashoff, als Chef des Hamburger Klassik-Veranstalters ProArte ein wichtiger Importeur von Dirigenten, Solisten und Orchestern, sagte zum Fall Gergiev: „Die Haltung der Scala und der Carnegie Hall, ihn auszuladen, wenn er sich nicht von Putins Vorgehen distanziert, finde ich richtig und konsequent. Wir haben kurzfristig keine Projekte mit Gergiev in Planung und werden die weitere Entwicklung beobachten, was die Zukunftsplanung anbelangt."

Einen generellen Boykott oder eine Sanktionierung russischer Künstlerinnen oder Künstler oder ein „Spielverbot“ russischer Musik hält Glashoff aber für „grundverkehrt. Denn es wäre in meinen Augen verheerend, die Russen insgesamt für Putins Vorgehen abzustrafen.“