Hamburg. Im Rahmen der Lessingtage stellt der Autor sein neues Buch vor: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen“.
Antworten gibt es keine. Nur Fragen, Vergleiche und Gleichnisse. Navid Kermani, habilitierter Religionswissenschaftler, Reporter und Essayist, hat ein neues Buch mit dem langen Titel „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen“ veröffentlicht. Untertitel: „Fragen nach Gott“. Darin erklärt er seiner zwölfjährigen Tochter „den Islam, in dem ich aufgewachsen bin“. Es ist eine Art Religionsunterricht für das Kind mit vielen Beispielen und auch die Erinnerung an Kermanis Vater, der vor Jahrzehnten aus dem Iran nach Deutschland gekommen ist.
Für die Buchpremiere hat der in Köln lebende Autor das Thalia Theater ausgewählt – trotzdem naheliegend, denn die Bühne und den Erzähler verbindet eine langjährige künstlerische Beziehung. Fast ein Dutzend sogenannter „Herzzentren“ – Lesungen aus Kermanis Werken an ungewöhnlichen Orten – hat das Theater bereits initiiert, auch sein Buch „Die Nacht der von Neil Young Getöteten“ erlebte seine Uraufführung am Thalia.
Für die Vorstellung des aktuellen Werks hatte Kermani sich seine Lieblingsschauspielerin gewünscht, Barbara Nüsse, außerdem das Ensemble Resonanz, mit dem er ebenfalls bereits Projekte bestritt. Als Moderatorin sitzt Thalia-Chefdramaturgin Julia Lochte mit auf dem Podium. Es wird ein spannender, fast zweieinhalb Stunden langer und abwechslungsreicher Abend, bei dem auf der Bühne intensiv diskutiert, musiziert und natürlich gelesen wird. Und der thematisch ideal zum Programm der noch laufenden Lessingtage passt.
Navid Kermani: Die Wahrheit bleibt unvollständig
In den Diskussionen über Fragen nach dem Universum, der Vernunft, der Schöpfung und unserer Verantwortung für unsere Umwelt stellt Kermani immer wieder Vergleiche zwischen Christentum und Islam an und erläutert Unterschiede: Im Islam werde das Beten von einer Haltung begleitet, bei der die Hände geöffnet sind, als hielten sie eine Weltkugel, und man blickt frei in die Schöpfung; im Christentum seien die Gläubigen mit gefalteten Händen in sich gekehrt. Kermani glaubt, dass die Religionen sich gegenseitig erhellen und ihre Verschiedenheit von großer Wichtigkeit sei.
Einen Wettbewerb der Religionen, wie er in der Geschichte stattgefunden hat und in der Gegenwart immer noch stattfindet, lehnt er entschieden ab: „Der Hass ist nicht schöpferisch“, schreibt er. Und: „Leben entsteht aus Liebe.“ Kermani erläutert seinen Gottesbegriff, in dem die Natur und das Staunen wichtige Aspekte sind. „Die Schöpfung ist ein einziges großes Gedicht, das Gott den Menschen singt.“
Immer wieder findet er Bilder, um seine zentralen Aussagen zu verdeutlichen. Um die Schwierigkeit des Wahrheitsbegriffs darzustellen, schildert der Autor das berühmte Gleichnis von den blinden Männern und dem Elefanten. Jeder untersucht ein anderes Körperteil, die Haut, den Rüssel, den Stoßzahn oder den Schwanz. Dann vergleichen die Blinden ihre Erfahrungen und stellen fest, dass jede Erfahrung zu einer eigenen Schlussfolgerung führt. Die Wahrheit bleibt unvollständig und subjektiv.
Kermanis Anstöße zum Nachdenken über Glauben
Ein zentraler Begriff bei Kermani ist die „religiöse Musikalität“. „Unendlichkeit finde ich in der Musik. Meinen Alltag erlebe ich oft chaotisch und zufällig. Musik gibt ihm Struktur und Sinn und eine Ordnung für den Augenblick“, erläutert er. Auch die Musikerinnen des Ensemble Resonanz werden nach der Bedeutung von Musikalität befragt. „Jede Stimme ist gleich wichtig. Im Zusammenspiel muss man bei sich sein und beieinander“, sagt Geigerin Juditha Haeberlin. Nachdem das Streichquartett zwei Sätze aus Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ gespielt hat, zitiert Haeberlin den Avantgarde-Künstler Mauricio Kagel mit einem Bonmot: „Ich weiß nicht, ob Komponisten an Gott glauben, an Bach glauben sie alle.“ Für Cellistin Saerom Park bedeutet Musikalität die „Fähigkeit zuzuhören“.
Das tut das Publikum mit großer Konzentration besonders bei den beiden Solostücken: Juditha Haeberlin spielt eine Elegie für Solovioline von Toshio Hosokawa mit zarten Klängen, die wie aus dem Nichts kommen und sich dynamisch steigern. Saerom Park brilliert mit „Varsha“, einem Cello-Solo der in den USA lebenden und aus Indien stammenden Komponistin Reena Esmail. „Varsha“ steht für Regen, Flut oder Wasser. Der Abend endet mit zwei Sätzen aus Joseph Haydns „Sieben letzte Worte“ in einer Fassung für Streichquartett. Die vier Musiker spielen so berührend, dass es Barbara Nüsse die Tränen in die Augen treibt.
Kermanis Buch bietet Anstöße zum Nachdenken über Glauben, Natur und Umwelt. Vielleicht sind seine „Fragen nach Gott“ genau das richtige Werk zur Gegenwart, in der sich viele Menschen aufgrund der Pandemie auf Sinnsuche begeben haben. Absichtlich oder gezwungenermaßen. „An Gott glauben heißt, dahinter eine Ordnung zu sehen“, sagt Kermani. Am Ende des Abends eilt er durch die Menge vor der Garderobe, um im Foyer seine Bücher zu signieren. Die Schlange ist lang, wieder einmal hat dieser bescheidene Autor die Zuhörerinnen und Zuhörer mit seinen klugen Gedanken bereichert.