Hamburg. Klaus von Dohnanyi schreibt in seinem neuen Buch über Nationale Interessen – und wie die Historie auch heutige Konflikte prägt.

Das Gute am Abschied aus der aktiven Politik ist der Gewinn an Freiheit – weder muss man sich einer Parteidisziplin unterordnen noch seine Worte ständig sorgsam wägen und vorsichtshalber ins Unbestimmte abdriften. Klaus von Dohnanyi, der letzte lebende Bundesminister aus dem Kabinett Brandt und langjähriger Erster Bürgermeister der Hansestadt, ist ein Mann des klaren Wortes. So ist auch sein neues Buch zu lesen – als Anstiftung zum Nachdenken, als Einladung zur Debatte. Schon den Titel „Nationale Interessen“ dürften manche als Provokation verstehen.

Und so ist er auch gemeint – seine Streitschrift formuliert manche These, die gegen den träge fließenden Mainstream gerichtet sind. „Auch die Bundesrepublik Deutschland ist ein Nation und kann mit gutem Gewissen ihre nationalen Interessen vertreten“, schreibt Dohnanyi. Der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt fordert mehr Nachsicht mit China, eine neue Entspannungspolitik mit Russland, mehr Distanz zur US-Politik und ein Europa der Eigenverantwortung.

Neues Buch: Klaus von Dohnanyi schreibt über „Nationale Interessen“

Das Faszinierende sind nicht nur seine Thesen, sondern ihre historische Grundierung – der 93-Jährige erklärt Gegenwart und Zukunft kenntnisreich aus der Vergangenheit und zeigt die Macht der Geschichte auf. Zusätzliche Farbe geben eigene Erlebnisse wie sein Besuch bei Deng Xiaoping 1973 oder Erinnerungen an Willy Brandt und Helmut Schmidt. „Andere Völker, andere Nationen haben andere Interessen, die wir verstehen müssen“, schreibt Dohnanyi.

Er wirbt – wie so oft in seiner Abendblatt-Kolumne am Freitag – für eine Emanzipation Europas von Amerika, für Souveränität. Dohnanyi, seit Jugendtagen ein Freund der Vereinigten Staaten, kritisiert die US-Politik schärfer als alle anderen. Er konstatiert eine angeborene Selbstüberschätzung mit dem „Missverständnis einer allmächtigen Aufgabe, die ganze Welt auf ihre Lebensweise, auf den American Way of Life, zu führen“. Die Folgen seien fatal und hätten Chaos, Zerstörung und verhärtete Diktaturen hinterlassen. Der Wettstreit mit China, die Ausgrenzung des Widersachers, nennt er „gefährlich“, Europa solle sich weitestmöglich aus den amerikanischen Konflikten heraushalten und seine eigenen Interessen verfolgen.

Klaus von Dohnanyi: „Nationale Interessen“, Siedler Verlag, 238 Seiten, 22 Euro.
Klaus von Dohnanyi: „Nationale Interessen“, Siedler Verlag, 238 Seiten, 22 Euro. © Siedler Verlag

Dohnanyi: Staaten der Europäischen Union sollten eigenständiger sein

Gerade der Ausgleich mit Russland als direktem Nachbar in Europa sei elementar, die „Dämonisierung Putins“ und die Osterweiterung der Nato grundfalsch gewesen. „Menschenrechte können niemals auf dem Weg der Schulmeisterei oder der Drohung durchgesetzt werden“, schreibt der Hamburger. Sanktionen wegen der Verhaftung des Oppositionellen Alexei Nawalny würden die russische Innenpolitik „nicht um einen Zentimeter“ verändern. Europa müssen endlich offen diskutieren, ob die USA den Kontinent schützten oder durch ihre Russlandpolitik gefährdeten. Dohnanyi geht so weit, eine „allianzneutrale“ Position in die Debatte zu bringen und verweist auf das Beispiel Schwedens und der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.

Ausdrücklich plädiert Dohnanyi für mehr Eigenständigkeit der Staaten in der Europäischen Union: „Wenn Brüssel versucht, die demokratische Souveränität der Mitgliedstaaten immer umfassender einzugrenzen, könnte dies zu immer größeren Spannungen in der EU und zu weiteren Brexits führen.“ Der Nationalstaat bleibe in Zeiten der Globalisierung aktuell, Deutschland müsse gegen eine Überdehnung der EU kämpfen. Es geht ihm um gemeinsame Ideen und Ziele, einen funktionierenden Handel und eine florierende Wirtschaft. Nationale Eigenheiten und nationale Interessen seien kein Nationalismus. Ganz im Gegenteil: „Nur wer die Unterschiede respektiert, kann das Ganze zusammenfügen.“ Nur 27 erfolgreiche Nationalstaaten könnten ein erfolgreiches Europa schaffen.

„Nationale Interessen“: Ein Kaleidoskop von Themen und Thesen

Für die Deutschen sei ein starker und offener Sozialstaat Teil der Identität geworden, „Geld aus Brüssel allein schafft weder europäische Identität noch europäische Loyalität.“ Schlimmer noch: „Die EU-Kommission behindert die Wettbewerbsfähigkeit Europas“, schreibt der Sozialdemokrat und verweist auf das Verbot der Fusion der Zugsparten von Siemens und Alstom oder die Verbote von Beihilfen. Airbus sei nur erfolgreich gewesen, weil sich beim Flugzeugbauer mit Frankreich und Deutschland zunächst zwei Partner zusammengetan haben – aber nicht 27.

Dohnanyis Buch ist ein Kaleidoskop von Themen und Thesen, ein Husarenritt durch Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht alle seiner zehn Thesen, die er am Ende des Buches zusammenfasst, auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Aber allein die Positionierung abseits der Denkverbote und der verbreiteten Denkfaulheit macht „Nationale Interessen“ zu einem Gewinn.