Hamburg. Die Zeit messen, atmen, sich selbst in Bildern erschaffen – in packenden Künstlerbegegnungen werden existenzielle Themen aufgegriffen.

25 Jahre Galerie der Gegenwart, das sind auch 25 Jahre „Tropfsteinmaschine“. Dieses Wunderwerk der zeitgenössischen Kunst, das der Bildhauer Bogomir Ecker der Kunsthalle damals dauerhaft zur Gründung der Galerie vermachte, um über die Bildung von Stalagmiten und Stalagtiten die Zeitmessung der nächsten 500 Jahre zu dokumentieren, ist Aufhänger für die erste Ausstellung des Jahres 2022. Was ist Zeit und wie kann diese künstlerisch dargestellt und vermessen werden? Wie kann Zukunft gedacht werden? Und welche Rolle kann dabei die Kunst spielen, kann sie ihren Beitrag leisten, wenn wir über Wahrnehmung, Vorstellung und Zukunftsfragen diskutieren?

Die von Bogomir Ecker und Brigitte Kölle gemeinsam kuratierte Ausstellung „Futura. Vermessung der Zeit“ lädt ab 14. Januar 30 Künstlerinnen und Künstler ein, sich Fragen über Zeitlichkeit, Nachhaltigkeit und Visionen zu stellen. Für die Präsentation der zum Teil überraschenden Begegnungen wird das gesamte erste Obergeschoss freigeräumt. Werke von Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge und Gustave Courbet spielen ebenso eine Rolle wie John Cage, Hanne Darboven und Edith Dekyndt.

Ausstellungen Hamburg: „Futura“ wird mit Musik ergänzt

Ein zusammen mit dem Tropfstein e.V. konzipiertes umfangreiches und interdisziplinäres Veranstaltungsprogramm ergänzt „Futura“. Eine musikalische Uraufführung einer speziell zu diesem Anlass entstandenen Komposition von Daniel Ott, Lesungen mit der Autorin Emma Braslavsky und dem Schauspieler Jens Harzer, Gespräche und Vorträge von bekannten Philosophen, Literatur- und Kunstwissenschaftlerinnen sind Teile dieses Programms. Weiterhin wird es eine Science-Fiction-Filmreihe im Metropolis Kino Hamburg, Arbeitsgruppen mit Fridays for Future oder auch Blicke hinter die Kulissen der Tropfsteinmaschine geben.

Eckers Tropfsteinmaschine.
Eckers Tropfsteinmaschine. © © Bogomir Ecker, VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Im Geburtstagsfeuerwerk für die Galerie der Gegenwart wird einen Monat später die nächste große Ausstellung dort gezündet: In „something new, something old, something desired“ (ab 18. Februar) begegnen sich bereits bestehende Positionen und junge, spannende Neuzugänge der Sammlung. Leiterin Brigitte Kölle thematisiert in den Werksdialogen zwischen Annika Kahrs, Fernando de Brito und Jan Köchermann einerseits und Richard Serra, Gerhard Richter und Almut Heise andererseits Begriffe wie Verständigung und Kommunikation, Abschottung und Abgrenzung, Machtausübung und Protest, Utopie und Struktur.

„Give and Take. Bilder über Bilder“ in der Kunsthalle

Ein weiterer Höhepunkt im „Gegenwarts-Jahr“ der Kunsthalle wird der Beitrag zur 8. Triennale der Photographie unter dem Motto „Currency“ (Aktualität, Gegenwärtigkeit) sein: „Give and Take. Bilder über Bilder“ lautet der Titel einer Ausstellung, die am 19. Mai startet. Geben und Nehmen beschreibt Prozesse des Austauschs und der Aneignung von Bildmaterial in der zeitgenössischen Fotografie.

Dabei loten Künstlerinnen und Künstler aus unterschiedlichsten Bereichen das Spannungsfeld zwischen Realitäten und Identitäten aus, die mit Bildern erschaffen werden. Von frühen Bildarchiven, historischen Filmaufnahmen und Museumssammlungen, über die klassischen Printmedien bis hin zu digitalen Bildern in sozialen Netzwerken und in Bildersuchmaschinen reichen die Materialsammlungen, aus der sich die Kreativen der Ausstellung bedienen.

Große Retrospektive für Maler Ernst Wilhelm Nay

Am 20. Mai 2022 wird eine Eröffnungsparty auf der Plattform vor der Galerie der Gegenwart stattfinden. Kuratorinnenführungen sowie Gespräche mit Künstlern und Wissenschaftlerinnen sind während der Festivalwoche vom 2. bis 6. Juni und der gesamten Laufzeit der Ausstellung zum Thema Archiv, Fake Photos, Migration und Fluktuation von Bildern oder Urheberrechte von Fotos geplant. Zum Thema „Museum als Currency“ spricht unter anderem der Künstler Sebastian Riemer (Jahrgang 1982) und zum Thema „Archiv als Currency“ die Gruppe Lighting the Archive.

Ernst Wilhelm Nay: „Paar mit Schmetterlingen“, 1939, Öl auf Leinwand.
Ernst Wilhelm Nay: „Paar mit Schmetterlingen“, 1939, Öl auf Leinwand. © Trevor Good | VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln

Ab 25. März stellt Karin Schick den Moderne-Maler Ernst Wilhelm Nay (1902-1968) mit einer großangelegten Retrospektive vor. Mit seinen starken, farbintensiven Arbeiten, die sich zwischen Abstraktion, Expressionismus und freier Malerei bewegten, galt er als Brückenbauer zwischen den Weltkriegen und war in bedeutenden Sammlungen vertreten. Auch nahm er an der documenta in den Jahren 1955, 1959 und 1964 sowie an den Biennalen in Venedig und Sao Paulo teil.

Ausstellung mit 120 Gemälden

Trotz dieser Präsenz hat sich die Kunstgeschichte bisher nie eingehender mit seiner Künstlerpersönlichkeit auseinandergesetzt, sondern lediglich seine Formen- und Materialsprache analysiert; dies holt die Forschung nun nach. Zudem kaufen Museen wie die Tate Modern in London und das Musée Nationale d’Art Moderne in Paris bedeutende Werke von ihm an.

Die Ausstellung wirft mit 120 Gemälden Licht auf alle Schaffensphasen und stellt sie in Bezug zu zentralen Themen seiner Zeit, die Eingang in seine Kunst fanden. Nay hatte eine enge Bindung an die Kunsthallen-Direktoren Carl Georg Heise und Alfred Hentzen; als Leiter des Hamburgischen Kunstvereins präsentierten sie außerdem in den Jahren 1947, 1955, 1964 und 1969 Werke von Nay in der Hansestadt.

Die Kunst des Atmens

In Hamburg fand auch Nays einzige Lehrtätigkeit statt: Im Herbst 1953 hatte der Maler drei Monate lang eine Gastdozentur an der Landeskunstschule inne. Die Direktoren kauften einige Bilder von ihm an, ein Konvolut seiner Werke befindet sich heute noch in der Sammlung des Museums. 75 Jahre nach der ersten Erwerbung zollt die Kunsthalle diesem großen Maler nun Tribut.

Die umfassende Themenausstellung „Atmen“ (ab 30. September) beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Facetten des Atmens und seiner Darstellung in der Kunst der Alten Meister und der Gegenwart. Rund 100 Werke werden miteinander in spannungsreiche, teils epochenübergreifende Dialoge gebracht. So entsteht ein unkonventioneller Austausch über ein existenzielles Thema, das zunächst wie ein unbewusster, biologischer Vorgang anmutet, aber vielfältige soziale und politische Dimensionen hat: Vom Atem als zentraler biblischer Metapher und als Ausdruck unserer Beziehung zur Welt über Luftverschmutzung und Atemwegserkrankungen bis hin zu Black Lives Matter („I can´t breathe“, übersetzt „Ich kann nicht atmen“).

Ausstellungen Hamburg: Ewig lockt die Femme Fatale

Mit der extrem vielversprechenden Schau „Femme Fatale. Von der Männerfantasie zur weiblichen Emanzipation“ (ab 9. Dezember) endet das Ausstellungsjahr am Glockengießerwall. Markus Bertsch, Leiter der Sammlung 19. Jahrhundert, zeigt darin epochenübergreifend anhand von rund 140 Gemälden, Zeichnungen, Druckgrafiken, Fotografien, Skulpturen, Installationen, Videoarbeiten und Filmen, wie sich dieser sinnlich-erotische, männerzerstörende Mythos einst bildete und im Laufe der Zeit verändert hat.

Die Femme Fatale bei Hermann Kaulbach: „Lucrezia Borgia“, 1882, Öl auf Leinwand.
Die Femme Fatale bei Hermann Kaulbach: „Lucrezia Borgia“, 1882, Öl auf Leinwand. © © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

Vor dem Hintergrund der MeToo-Debatte, aktueller Gender¬Diskurse und durchlässig gewordener Geschlechtergrenzen bieten sich vielfältige Anknüpfungspunkte für Künstlerinnen und Künstler, um zeitgemäße Perspektiven zu eröffnen.