Hamburg. Der Erfolgsautor spricht über den neuen Band seiner autobiografischen Saga, den Faktor Nostalgie, Kai Diekmann und sein Elternhaus.

Gerhard Henschel lebt in Bad Bevensen. Ein ziemlich idyllisches Örtchen in der Lüneburger Heide, das der Schriftsteller zuletzt weniger häufig, als ihm lieb war, verlassen hat. Seit Oktober 2020 hatte er nur drei Lesungen. Jetzt kommt eine vierte dazu: Im Literaturhaus findet die Buchpremiere von Henschels neuem Buch „Schauerroman“ statt. Es ist der neunte Band von Henschels gewaltigem Projekt: der Martin-Schlosser-Saga, die in den 1960er-Jahren beginnt und dereinst, so die Pläne Henschels, in der Gegenwart landen soll.

Im „Schauerroman“ gelangt Henschel mit seinem literarischen Ich Martin Schlosser Anfang der Neunziger im Frankfurter Kapitel seiner Vita an; seinem Eintritt in die „Titanic“-Redaktion und der damit verbundenen Ankunft im Satire-Olymp. Einer von Henschels Coups (in der „taz“) war später eine dem damaligen „Bild“-Chefredakteur angedichtete missglückte Penisverlängerung, auf die Kai Diekmann humorlos mit einer Klage reagierte.

Hamburger Abendblatt: Kann man sagen, dass Ihre literarische Chronik jetzt endgültig den Kreis der Familie verlässt, das Personaltableau also oft auch ohne die Schlossers auskommt?

Gerhard Henschel: Seiner Familie wird der Erzähler weiterhin verbunden bleiben, und es wird auch nicht mehr lange dauern, bis er seine eigenen Familienromane schreibt. Aber sein Leben spielt sich inzwischen größtenteils außerhalb der Familie ab.

Im neuen Buch geht es auch um Ihren Job bei der „Titanic“ und den Beginn Ihrer satirischen Karriere. Wird es in diesem oder einem der nächsten Bände um Kai Diekmanns Penis gehen, oder ist Martin Schlosser für derlei Gags nicht zu haben?

Henschel: Auch Kai Diekmann wird damit leben müssen, dass ich ihn zu meiner Romanfigur mache, wenn ich lange genug durchhalte.

Martin Schlosser ist Ihr Alter Ego. Ihre Weggefährten sind auch seine. Es sind bekannte Leute dabei, im „Schauerroman“ etwa Max Goldt. Was ändert dies an Ihrer Vorgehensweise?

Henschel: Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich den Familienmitgliedern andere Namen gegeben habe, während ich öffentlich bekannte Personen bei ihrem richtigen Namen nenne. Es wäre ja auch unsinnig, beispielsweise Walter Kempowskis oder Kathrin Passigs Namen zu verschlüsseln.

Uwe Johnson sprach einmal von den „Tricks“ der Erinnerung. Was halten Sie persönlich von Ihrem Gedächtnis und den alten Tage- und Notizbüchern?

Henschel: Im Zweifelsfall ist auf historische Dokumente sicherlich größerer Verlass als auf das eigene Gedächtnis.

Die Frage sei gestattet: Wie emotional ist eigentlich der fortwährende Besuch der eigenen Biografie?

Henschel: Es ist nicht leicht, einen geliebten Menschen in einem Roman sterben lassen zu müssen. Dafür geben aber beispielsweise Wutausbrüche, Zahnschmerzen und Liebesleid im Rückblick ihre komischen Seiten preis.

Wie stark ist der Faktor Nostalgie?

Henschel: Gleich null. Ich möchte nichts verklären.

Ihr schriftstellerisches Schaffen widmet sich in allergrößtem Umfang Vergangenem. Macht Sie das Vergehen der Zeit fertig, oder sind Sie ein insgesamt fröhlich Erinnernder, der sich über die Fülle gelebter Erfahrungen freut?

Henschel: Wenn ich mein Leben in einer Himalaja-Höhle verbracht hätte, gäbe es natürlich weniger zu erzählen. Was mich freut, ist vor allem der Umstand, dass ich das Vergangene gut rekonstruieren kann, weil es kaum einen Tag ohne irgendwelche Aufzeichnungen gegeben hat. Über das Vergehen der Zeit mache ich mir übrigens nicht viele Gedanken, sondern halte mich lieber an die Devise von Arno Schmidt: „Das Erforschliche in Worte sieben; das Unerforschliche ruhig veralbern.“

Der „Schauerroman“ ist die neunte Lieferung der Schlosser-Saga. Wie viele werden es noch? Und war das Projekt von Anfang an komplett durchgeplant?

Henschel: Ursprünglich wollte ich nur den „Kindheitsroman“ schreiben. Die Idee, weitere Bände folgen zu lassen, ist erst viel später entstanden. Wie weit ich damit kommen werde, steht in den Sternen, denn momentan habe ich noch 26 Jahre aufzuholen. Das bereitet mir aber kein Kopfzerbrechen. Ich konzentriere mich einfach auf den jeweils neuesten Band.

Wie oft denken Sie: Mein Gott, warum habe ich mich zum Gefangenen meiner eigenen Biografie, dieses Megavorhabens gemacht?

Henschel: Dieser Gedanke ist mir noch nie gekommen. Es zwingt mich ja niemand dazu, diese Romane zu schreiben. Ich könnte jederzeit damit aufhören, doch ich wüsste nicht, weshalb ich das tun sollte.

Die Schlosser-Saga engt Sie durchaus ein, obwohl Sie auch sonst Bücher veröffentlichen – die Krimis, Wanderbücher. Überlegen Sie mal, was Sie sonst noch alles hätten schreiben können!

Henschel: Wenn ich etwas bedaure, dann allenfalls, dass ich nicht schon früher mit der Arbeit an den Martin-Schlosser-Romanen begonnen habe. Dann hätte ich etwas bessere Chancen, irgendwann die Gegenwart zu erreichen.

Die gesellschaftliche Umrahmung Ihres persönlichen Geschehens ist immer gegeben. Die Wendezeit bringt für Ihren Helden aufregende Möglichkeiten. Sonst aber sind, anders als etwa bei Walter Kempowski, bei aller Mobilität keine dramatischen Generationserfahrungen zu konstatieren. Hätten Sie es zumindest als Erzähler manchmal gerne anders?

Henschel: Wenn Sie damit meinen, dass ich mir womöglich einen Weltkrieg wünschte, um einen aufregenderen Erzählstoff zu bekommen, muss ich Sie enttäuschen. Ich hätte auch auf die Erfahrung einer weltweiten Pandemie gern verzichtet. Mir genügen „die Sensationen des Gewöhnlichen“, wie der Essayist Michael Rutschky das genannt hat.

Mit wie vielen Megafans Ihrer Schlosser-Reihe sind Sie in Kontakt? Gibt es das, Henschel-Ultras?

Henschel: Bislang sind mir nur liebenswürdige Leser persönlich begegnet. Manchmal haben sich Freundschaften daraus entwickelt, und von Zeit zu Zeit kommt es vor, dass vor Jahrzehnten verschollene Romanfiguren sich bei Lesungen einfinden – ehemalige Mitschüler oder Fußballvereinskameraden oder sogar Sandkastenbekanntschaften. Das gefällt mir sehr gut. Was allerdings noch fehlt, ist ein Mäzen, der Martin Schlossers in den 70er-Jahren verkauftes Elternhaus auf dem Mallendarer Berg in Vallendar erwirbt, um darin ein Schlosser-Museum zu errichten. Dann wäre auch die Frage geklärt, wo mein Archiv bleiben wird, wenn meine Arbeit getan ist.

Gerhard Henschel stellt seinen „Schauer­roman“ am 28.10., 19.30 Uhr, im Literaturhaus vor. Tickets 12, erm. 8 Euro, Streamingticket 5 Euro. Karten und Infos gibt es unter ­www.literaturhaus-hamburg.de