Hamburg. Der Bestsellerautor legt mit „Every“ den Nachfolger von „The Circle“ vor. Stellt sich die Frage, wie inspiriert dieser wirklich ist.
Das ist die Welt, in groben Zügen, wie sie sich dieser Roman vorstellt: Apps regeln das soziale Miteinander. Alles wird bewertet und enthüllt, der Mensch überwacht sich und andere permanent selbst. Es gilt, alle alltäglichen Risiken und Unsicherheiten zu vermeiden.
Natürlich glauben so gut wie alle, damit die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Ist Transparenz nicht der Schlüssel für die Erziehung jedes Individuums zu einem moralisch einwandfreien Gemeinschaftswesen? „Every“ spielt in der nahen Zukunft, und dem digitalen Fortschritt sind keine Grenzen gesetzt.
Neuer Roman von Dave Eggers: Hass aufs Internet
Der US-amerikanische Erfolgsautor Dave Eggers mag diesen vermeintlichen Fortschritt und diese Grenzenlosigkeit nicht. Sein 2013 erschienener Bestseller „The Circle“ ist der Anti-Internet-Roman schlechthin. Dachte man zumindest bis jetzt. „Every“ ist nämlich die Fortsetzung von „The Circle“ und steigert die Herrschaft der Algorithmen noch, die Eggers damals mit erstaunlicher Unerbittlichkeit entfesselt sehen wollte.
Damals war Mae Holland die Neue in der kalifornischen Riesenfirma mit technologischen Superkräften und quasi-religiösen Slogans („Teilen ist Heilen“), die die Macht übernommen hatte. Nun heißt die Heldin Delaney Wells, die einige Jahre später auf ein immer noch aggressives Unternehmen trifft, das mit seinen Netzwerken die das Zusammenleben bestimmt.
Der „Circle“ heißt mittlerweile „Every“ („Raider“ hießt ja auch irgendwann „Twix“) und ist eine noch größere Angelegenheit geworden, in der und durch die eine bedenkliche Unfreiheit herrscht. Weil gut gemeint nicht immer gut ist. Weil die mit Blick auf die Tech-Giganten Google, Facebook und Apple modellierte Monopol-Existenz des Roman-Unternehmens ja tatsächlich einem Horrorstück gleichkommt.
Eine Firma als Zentralort des totalitaristischen Prinzips
Every hat nach der Übernahme des größten Onlineversandhauses nun die entscheidende Marktmacht, was die Welt der Dinge angeht. Wobei das Unternehmen, bei dem Mae Holland mittlerweile CEO ist, aber kaum in Erscheinung tritt, tendenziell alles Dingliche aus der Welt schaffen will.
Als Eggers‘ Protagonistin auf dem Firmengelände auf Treasure Island eintrifft, ist das Feld für eine originelle und, wie es scheint, dem messianischen Glauben an die Steuerbarkeit einer gerechten Welt anhängenden Frau wie sie bereitet. Delaney Wells sprudelt gemeinsam mit ihrem Verbündeten, dem Programmierer Wes, vor Ideen.
Every kennt keine Privatsphäre
Eine App, die Schönheit misst? Und eine, die die Gesichtsregungen des Gegenübers nach „Authentizität“ scannt, also darlegt, wie es um Freundschaften tatsächlich steht? Eine App, die genau anzeigt, wie es um den ökologischen Fußabdruck des Jeweiligen bestellt ist? Delaney dringt mit ihren Anstößen schnell ins Zentrum der Macht vor.
Und das auf einem Campus, der vor idealistischen Weltrettern birst und so tragischer- wie auch logischerweise zum Zentralort des neuen totalitaristischen Prinzips wird: Wer nicht alles offenlegt, gehört nicht dazu. Kommunikation, die alles verrät – und Zwang allerorten. Bodycams und Tracking-Möglichkeiten sind noch das wenigste.
Auf dem Every-Campus werden alle Gespräche mitgeschnitten. Nur wer mit der Firmenphilosophie im Einklang ist und sich rhetorisch, gerne mit positiv besetzten Schlüsselwörtern, dergestalt gibt, hat eine Zukunft bei Every.
Dave Eggers weiß, wo der Feind steht
Was letzteres angeht, hat Delaney klare Vorstellungen. Sie will Every von innen heraus sabotieren und vernichten. Und ist damit der verlängerte literarische Arm ihres Erfinders Dave Eggers. Der 51-Jährige ist, mindestens, ein Romantiker: In den Dankesworten zu seinem Roman erwähnt er („Einen herzlichen Gruß an alle unabhängigen Buchhandlungen, die Tag für Tag in einer Welt, die Monopole liebt, ums Überleben kämpfen“) die, denen sein Herz gehört.
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Konsequenterweise wird zumindest die Hardcoverversion von „The Every“, wie der Roman im Original heißt, zumindest bei amazon.com nicht zu kaufen sein. Das Roman-Unternehmen Every kaufte übrigens einen Internethändler auf, „der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war“. Alles klar? Der Roman und sein Schöpfer wissen also genau, wo der Feind steht.
Dave Eggers neuer Roman: 570 Seiten, die sich lohnen?
Auch die neuen Realitäten und digital-interventionalistischen Gegenwartstendenzen – Cancel Culture! – sind in „Every“ Thema. Der Roman ist dicht (und irgendwann auch überdicht) gebaut, was seine schön-schrecklichen Ideen angeht; ein Dystopie-Thriller von immerhin 570 Seiten.
In den besseren Momenten ist „Every“ eine makabere Komödie, die von kalifornischen Verblendungen und blinder Technikgläubigkeit erzählt. Auf dem Every-Gelände tragen die Menschen, so viel optische Durchlässigkeit muss angesichts des Credos des Gläsernen sein, meist hautenge Klamotten. Das heißt: Auch Männer tragen, (k)ein Witz, mit Stolz und Hingabe Leggings.
Im Hamburg dieser Tage sagt man wahrscheinlich „Pimmel-Parade“ dazu. Insgesamt aber ist dieses Buch eine wenn nicht ärgerliche, so doch mindestens uninspirierende Auseinandersetzung mit dem Internet. Eggers, der angeblich weder ein Smartphone besitzt noch W-Lan, war wiederum extrem inspiriert von seinen Aversionen.
Statt Satire: Sardonisch, bitter und gallig
Und so ist „Every“, das sich nicht die Mühe macht, seinen Charaktere Tiefe und Vieldeutigkeit zu geben, in Wirklichkeit das Gegenteil eines humoristischen Erzählwerks, mag es auch noch so viele satirische Signale aussenden. Natürlich soll dieser Roman auch Gegenwartsdiagnose sein, und als solche ist „Every“ sardonisch, bitter, gallig geraten.
Alles ist berechenbar, auch wie literarische und cineastische Werke beschaffen sein müssen, um anzukommen. Nichts darf ein Geheimnis sein, kreatives Chaos, minimiertes Risiko; Freiheit wollen Milliarden von Menschen, deren Informationsflüsse Every beherrscht, nicht mehr.
Dave Eggers' „Every“: Wer braucht 228 Senfsorten?
„Grenzenlose Freiheit tötet die Welt“ heißt es einmal, als Delaney mit einer neuen Idee um die Ecke kommt, der Höchstform unternehmerischer Herrschaft: Wenn nur noch Every bestimmt, welche Artikel hergestellt und über die Every-Plattformen werden. Weil: Wer braucht 228 Senfsorten. Und den Regenwald kann man mit weniger Produktion auch noch retten.
Nur einen Roman halt nicht. Der sollte lebendiger sein und freier in seinen ästhetischen Entscheidungen.