Hamburg/Toskana. Die Autorin spricht über ihr neues Buch, Quallen und Verfilmungsfrust. “Die wilden Hühner“ würde sie heute anders schreiben.
Cornelia Funkes Bücher werden rund um die Welt millionenfach gelesen. Nun erscheint mit „Der Fluch der Aurelia“ der dritte Band ihrer „Drachenreiter“-Reihe, die sie 1997 begonnen hat. Damals noch in Hamburg, wo die Autorin bis 2005 lebte und Illustration an der heutigen Hochschule für Angewandte Wissenschaften studiert hat.
Nach langen Jahren in Kalifornien ist die 62-Jährige nun in die Toskana gezogen. In ihrem neuen Zuhause erreichen wir Cornelia Funke via Video-Call. Der Wind weht herein, ihre Hunde würden lieber Gassi gehen und gerade reisen Künstlerinnen aus Hamburg an. Eine angenehm offene Atmosphäre, in der sie äußerst anregend erzählt über Feuer und Quallen, über Schreibspaß und Verfilmungsfrust.
Hamburger Abendblatt: In „Der Fluch der Aurelia“ fühlen sich die Geschöpfe verschiedenen Elementen hingezogen: Erde, Feuer, Wasser, Luft. Welches ist Ihres?
Cornelia Funke: Ich bin von ziemlich feuriger Natur in dem Sinne, dass ich manchmal zu ungeduldig bin, dass ich Sachen sehr schnell mache und dass ich nicht allzu bodenverhaftet bin. Zudem bin ich ein ganz schlechter Schwimmer.
Das Buch strotzt vor Diversität – sowohl in der Fabelwelt als auch in der realen. Doch diese Vielfalt ist bedroht. War das Ihr Ansatz, jetzt den großen Klima-Kinderroman zu schreiben?
Funke: Sich vorher auf die Fahne zu schreiben, jetzt den großen Roman zu etwas zu schreiben – da kann man nur scheitern. Im Grunde spiegeln meine Bücher das wider, was ich derzeit empfinde und denke über die Welt. Was uns derzeit verzaubert und zugleich bestürzt, ist die Vielfalt auf dieser Welt und deren Bedrohung. Gerade dem nicht-menschlichen Leben wird immer weniger Recht auf Existenz eingeräumt. Wir plündern immer egoistischer. Mit 17 habe ich mal gedacht, ich könnte die Welt besser machen. Jetzt, mit 62, gucke ich mir an, was wir der Jugend weitergeben. Das ist schon sehr ernüchternd.
Die titelgebende Aurelia ist ein Unterwasserwesen, das für die Vielfalt der Natur steht und das sich rächt, wenn ihm Gewalt droht. Was hat Sie zu dieser Figur inspiriert?
Funke: Die Aurelia stellte sich bei mir ziemlich selbstverständlich ein – gerade mit diesem Aspekt, dass sie etwas sehr Gutes bringen kann, aber auch etwas Furchtbares. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich die Widersprüchlichkeit dieser Welt. Ich finde es interessant, dass Aurelia keine Figur ist, die einfach nur wundervoll friedlich ist und sich der Aggression relativ hilflos stellt.
Sie verweben Fiktion mit der Realität, etwa mit Wissen über Flora und Fauna. Wie sind Sie die Recherche angegangen?
Funke: Ich habe unter anderem sehr viel über Quallen gelesen. Die sind durchaus problematisch, da sie sich aufgrund der Meeresverschmutzung gerade ganz gewaltig vermehren. Aber sie sind auch eine wesentlich ältere Lebensform als wir und stellen, da sie ohne Hirn oder Knochen auskommen, vieles infrage, was wir mit Lebewesen assoziieren.
„Fabelwesen sind die Übersetzer zwischen uns und allen anderen Bewohnern dieser Welt“, heißt es im Buch. Inwiefern kann Fantasie zu einem besseren Verständnis der Welt führen?
Funke: Ich lese gerade das wunderbare Buch von Merlin Sheldrake über Pilze, in dem er sehr eindringlich beschreibt, dass Wissenschaft ohne Fantasie nicht sehr weit kommt. Wie sonst würden wir überhaupt auf die Idee kommen, dass Bäume über Pilze miteinander kommunizieren? Ich glaube, uns wird derzeit klar, wie begrenzt und menschenzentriert unser Weltbild ist. Und dass die Welt wahrscheinlich wesentlich mehr auf Kollaboration beruht als auf Konkurrenz.
Drachenreiter Ben erklärt: „Die Welt war so ein komplizierter Ort. Und es war schwer zu entscheiden, was richtig und was falsch war.“ Wie schwierig ist es, in einer immer komplexer wirkenden Wirklichkeit für Kinder zu schreiben?
Funke: Ich glaube, vielen von uns wird derzeit klar, wie viele Vorurteile und blinde Flecken unser Weltbild hat! Ich lasse gern Figuren aus anderen Ländern und Kulturen vorkommen, aber das birgt immer das Risiko, dass ich sie allzu sehr durch die „weiße“ Brille sehe.
Wie gehen Sie als Autorin mit diesen blinden Flecken um, etwa in Bezug auf indigene Gruppen wie den Chumash, von denen Sie in Ihrem Buch erzählen?
Funke: Man muss lernen zuzuhören. Ich habe zum Glück einen engen Freund in Malibu, der selbst indigene Wurzeln hat und mit mir die Passagen über die Chumash diskutiert hat. Aber es gibt unter ihnen auch Stimmen, die es problematisch finden, dass ich als Weiße mit Motiven aus ihren Mythen spiele. Mein Freund Danny freut sich, dass ich das tue, aber ich habe auch Kritik zu hören bekommen. Ich denke, das Wichtigste ist es, immer wieder den Dialog zu suchen. Und zu lernen, die eigene Sichtweise zu hinterfragen. Als Geschichtenerzähler müssen wir genau hingucken. Ich habe zum Beispiel „Jim Knopf“ sehr geliebt. Aber wie Michael Ende die Chinesen beschreibt, würde man heute als rassistisch bezeichnen. Das hat er damals sicher nicht beabsichtigt. Jeder von uns hat diese blinden Flecken, und wir können nur hoffen, dass wir die durch Liebe und Respekt für unsere Figuren wettmachen und unsere Stimmen für die richtigen Werte erheben. Ich hoffe, dass es mir gelingt, meine Leser neugierig auf das andere zu machen.
Mit Ihren Büchern lässt sich um die Welt reisen. Aber auch die Realität von Kindern ist ja mittlerweile viel kosmopolitischer.
Funke: Ja! Heute würde ich zum Beispiel „Die Wilden Hühner“ anders schreiben als in den 90er-Jahren. Damals war es realistisch, dass die Mädchen alle einen sehr deutschen Hintergrund hatten. Heute wäre das wesentlich spannender, und ich würde sicher eine wesentlich farbigere Bande zusammenstellen.
Wie gestaltet sich Ihr Schreibprozess?
Funke: Seit ein paar Jahren entwickele ich viele Figuren erst einmal zeichnerisch. Das macht sehr viel Spaß. Ich fülle etliche Notizbücher mit Skizzen, Ideen, Fragen und möglichen Gliederungen für die ersten Kapitel. Ich will nie das Ende wissen, sonst langweile ich mich zu Tode. Das ist für mich das große Abenteuer, die Geschichte immer besser zu verstehen, während sie wächst.
Bei der Arbeit wie jetzt an einem dritten Band, ist es da nicht schön, bei den Hauptfiguren deren Entwicklungen mitzuerleben?
Funke: Ja, das ist so, als ließe man sich von seinen Freunden überraschen. Ich hänge natürlich sehr an meinen Figuren. Deswegen war für mich auch die „Drachenreiter“-Verfilmung so schlimm. Ich habe meine Charaktere nicht wiedererkannt. Meine Kritik wurde sehr oft ignoriert, und es ist genau das passiert, was ich vorausgesehen habe: dass meine Leser sehr erbost waren. Aber wenigstens hat mir das Geld für die Rechte geholfen, mein Künstlerprogramm aufzubauen. Insofern sage ich mir: Zähne zusammenbeißen, es war doch zu etwas gut.
Und das Programm findet nun an Ihrem neuen Wohnort in der Toskana statt?
Funke: Ja, genau. Als der Dressler Verlag von meinem Projekt erfuhr, hat er zusammen mit meiner alten Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg einen Wettbewerb durchgeführt, bei dem junge Illustratoren zu meiner „Reckless“-Reihe arbeiteten. Eigentlich sollte nur ein Gewinner zu mir kommen. Aber ich fand alle ausgewählten Arbeiten so verzaubernd, dass ich zehn eingeladen habe. Vier haben mich noch in Malibu besucht. Und dann kam Covid. Umso schöner ist es, jetzt endlich den anderen zu begegnen. Ich habe hier in der Toskana vier kleine Wohnungen für Gäste, eine Werkstatt für Illustration sowie ein Sound-Studio und bald auch ein kleines Stop-Motion-Studio. Das ist neben dem Bücherschreiben momentan mein wichtigstes Projekt.
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Das Buch spielt über weite Strecken in Kalifornien. Ein Abschieds- und Liebesbrief an Ihre alte Wahlheimat?
Funke: Es ist sicher ein Liebesbrief. Aber als ich den schrieb, wusste ich noch nicht, dass ich Kalifornien verlasse. Das hat mir erst die Dürre im letzten Winter endgültig klargemacht. Und die erste Feuerwarnung im Januar. Es war ein bisschen so, als ob man aus Pompeji weggeht. Aber ein Teil von mir wird immer zu Hause sein an der wilden Westküste Amerikas.
Sie bezeichnen sich als Weltbürgerin. Also ist offen, wohin die Reise geht?
Funke: Genau. Wer weiß, wo ich lande. Ich habe einen amerikanischen Schwiegersohn und eine iranische Schwiegertochter. Da kann noch viel passieren.