Hamburg. Der New Yorker Künstler eröffnet am Sonnabend seine spektakuläre „Space Program“-Schau. Von dort geht es quasi direkt in den Weltraum.
Tom Sachs, Jahrgang 1966, ist ein von der Raumfahrt besessener Bildhauer. In den Deichtorhallen eröffnet an diesem Wochenende seine Ausstellung „Space Program“, eine in jahrelanger Handarbeit zusammengebastelte NASA-Raumfahrt-Adaption mit Mission Control Center, Landemodul und Quarantänemobil aus Sperrholz, Pappe, Harz, Keramik, Stahl.
Nach bisherigen Missionen zum Mars, auf den Jupitermond Europa und auf den Mond steuert Sachs mit „Rare Earths“ in Hamburg Vesta-4, den nächstgelegenen Asteroiden zur Erde, an. Ein Gespräch mit dem Flight Director über Jonathan Meese, exzessiven Smartphone-Gebrauch, die Kunstliebe der Hamburger und die Widersprüchlichkeit von Chanel
Hamburger Abendblatt: Mr. Sachs, Sie geben Hospitanten, die in ihrem Studio mitarbeiten wollen, ebenso wie Journalisten, die Sie interviewen, gerne das YouTube-Video „Ten Bullets“ an die Hand – mit Verhaltensregeln. Die Türen sind zum Beispiel leise zu schließen, man muss immer exakt pünktlich sein – als Basis für eine gemeinsame Verständigung. Ich habe für Ihre Zeit in Hamburg auch ein paar Bullets für Sie vorbereitet: Tragen Sie, wenn möglich, ein dunkelblaues Jackett bei offiziellen Anlässen.
Tom Sachs: (guckt irritiert, als würde er überlegen, ob sich ein solches Jackett in seinem Gepäck befindet, beziehungsweise ob er überhaupt eines besitzt.)
Reden und lachen Sie nicht zu laut, man ist hier gern diskret.
Sachs: Okay... (runzelt die Stirn)
Und, fast am wichtigsten, da Sie schon einmal Ihr Publikum mit einer Chanel-Guillotine als Konsumkritik geschockt haben: Sagen Sie niemals etwas Negatives über Chanel. Karl Lagerfeld wurde hier geboren!
Sachs: (Jetzt ist der Groschen gefallen, Tom Sachs lacht.)
Welche Beziehung haben Sie zu Hamburg?
Sachs: Die Stadt ist für mich unweigerlich mit Harald Falckenberg verknüpft. Seine Vision, Künstler wie Jon Kessler oder Martin Kippenberger zu sammeln, die mit ihrer Arbeit gegen Regeln verstoßen, Grenzen niederreißen, ist sehr inspirierend für mich. Unsere Arbeit passt nicht unbedingt in diese Tradition hinein, weil wir eher obsessiv, zwanghaft sind. Im „Space Program“ geht es gerade darum, Richtlinien zu schaffen, innerhalb derer wir uns bewegen. Unser Hauptanliegen ist es, über den zentralen Konflikt des Menschen zu sprechen: die Dualität von rationalen und irrationalen Ideen. Im „Space Program“ gibt es viele Dinge, die eigentlich nicht dorthin gehören. Aber gerade in ihrer Nicht-Zugehörigkeit liefern sie uns Informationen. Unsere Herausforderung besteht darin, die zwei richtigen falschen Dinge zu finden und zusammenzubringen, eine Balance herzustellen.
Sie sprechen die „Counter Culture“ an, eine Kunstströmung, die im Amerika der 1960er- und 70er-Jahre mit Sarkasmus und beißender Kritik gegen gesellschaftliche Normen anging, und die den Schwerpunkt in Falckenbergs Hamburger Sammlung bildet. Was fasziniert Sie so an dieser Kunst?
Sachs: Es ist diese Art Kampf, die mich irgendwie anzieht und beeinflusst. Auch ich habe 20 Jahre lang gekämpft, um meinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Erst in der Schule, später im akademischen System. Ich war erfolglos, geriet in Konflikt mit dem Gesetz, war sozial unsicher, hatte wenig Achtung vor mir selbst. Ich nutzte die Kunst, um den Platz zu finden, der für mich einen Sinn ergibt.
Wann stellten Sie fest, dass Sie mit Ihren Händen arbeiten, dass Sie Bildhauer sein wollen?
Sachs: Mit Anfang 20. In meinem ersten Semester am College fing ich an, große Skulpturen aus Stahl zu fertigen, das war wahnsinnig arbeitsintensiv. Mit meinen Händen zu arbeiten war wie Meditieren für mich. Ich konnte durch das Körperliche Antworten finden, mich mit der Welt verbinden. In diesem Punkt ähnele ich den Künstlern der Falckenberg-Sammlung. Bewundernswert finde ich zum Beispiel an Jonathan Meese das Impulsive, diesen Speed. Ich meine, „La Chambre secrète du BALTHYS“ ist so eine shit show. So etwas würde ich mir nie erlauben.
Aber Sie hatten in Ihrer Karriere auch einige Schockmomente. Eine Auschwitz-Miniatur in eine Hutschachtel von Prada zu packen, dazu gehört schon Einiges...
Sachs: Ja, aber dafür habe ich Monate gebraucht. Ich bewundere Marcel Duchamp zutiefst dafür, dass er einfach ein Urinal auf einen Tisch stellte und es als Kunst firmierte. Als Kritiker ihn fragten, wie lange er dafür gebraucht hätte, antwortete er: Nur einen Augenblick, aber es brauchte ein Leben lang der Kontemplation.
Das Handwerkliche hilft Ihnen also dabei, die Welt in ihrer Komplexität zu begreifen. Richtig?
Sachs: Es erdet mich als Individuum auf diesem Planeten. Ich habe nur eine kurze Zeit zu leben, und ich möchte so viel wie möglich daraus machen. Ob mit einem Stift, einer Kamera oder mit dem Computer – seine Arbeit zu tun ist gut. Shopping, Pornos gucken, Instagram sind dagegen Sünde. Smartphones sind die wahren motherfucker. Wir werden Covid in den Griff bekommen; die wirkliche Pandemie sind Smartphones.
Und deshalb gibt es in der Ausstellung auch einen Schrein, an dem Besucher ihre Handys schreddern lassen können...
Sachs: Es ist ein ganzes Ritual, wir nennen es Transsubstantiation, also Wesensverwandlung: Zuerst begibt man sich durch einen Film in die Unendlichkeit und entdeckt seinen Platz darin. Und vielleicht entdeckt man auch, dass man ohne Mobiltelefon leben kann. Wir geben den Besuchern die Gelegenheit, ihr Gerät an unserer Station abzugeben. Das Innenleben wird in seine Einzelteile zerlegt, die Mineralien werden daraus gewonnen und später in Form eines Götzenbildes gegossen. Diese wird an einen heiligen Ort transportiert: dort, wo die Raketen gebaut werden. So schließt sich der Kreis.
Wie steht es mit Ihrer eigens verordneten Smartphone-Abstinenz?
Sachs: Je länger ich pausiere, desto exzessiver nutze ich es danach, wie ein Drogenabhängiger. Ich bin dagegen nicht immun, aber ich spreche über diese Dinge.
Der Schrein zum Handyschreddern ist der Kathedrale von Chartre nachempfunden. Allein darin finden sich unzählige Details wie ein Totenkopf mit Schweißerbrille, kleine goldene Glöckchen, Kugelschreiber, eine Rolle Tape, Schablonen, Bürsten, eine Tastatur, Becher mit Fertignudeln und jede Menge Werkzeug. Wo und wie lagern Sie bloß all diese Dinge?
Sachs: In New York habe ich ein gigantisches Lagerhaus, es ist nicht ganz so groß wie die Deichtorhallen, aber sehr groß. Außerdem gibt es mehrere Lagerhäuser über die USA und Europa verteilt – allein für die Ausstellung des „Space Program“. All dies zu organisieren ist ebenso Kunst, es ist eine große Aufgabe. Aber es ist nicht perfekt, auch wenn es so scheint. Das Raumschiff wurde 2007 gebaut; die Qualität des Materials, die Patina zeugt davon, dass es nicht perfekt ist. Wir feiern die Narben.
Buzz Aldrin, der zweite Mann auf dem Mond, soll Ihnen attestiert haben, die Raumfahrt menschlicher gemacht zu haben. Man könnte aber auch denken, Sie würden mit dem „Space Program“ das „höher, schneller, weiter“ der NASA-Raumfahrt und damit ja auch den American Way of Life konterkarieren, indem Sie es von Hand nachbauen, auf den Boden holen, es begreifbar machen. Haben Sie viele Kritiker, begegnet Ihnen Hate Speech im Netz?
Sachs: Ich weiß es nicht, weil ich dem keine Aufmerksamkeit schenke. Aber ich kritisiere den American Way of Life nicht nur. Also, ich kritisiere ihn schon, aber zur selben Zeit zelebriere ich ihn auch. Konsum, Kommerz, Werbung – all das hat Amerika groß gemacht. Ich liebe zum Beispiel Chanel, weil meine Frau darin wunderschön aussieht. Aber ich hasse Chanel, wenn die Werbung ihr etwas verspricht, was sie durch Konsumieren niemals erreichen wird. Es ist diese Widersprüchlichkeit, die ich im Film „Paradox Bullets“, dem Nachfolger von „Ten Bullets“, aufgegriffen habe. Ich habe festgestellt, dass das Paradoxe Hass hervorruft. Menschen mögen es nicht, wenn Dinge keinen Sinn ergeben. Deshalb müssen wir uns ganz besonders in diese Dinge hineinbegeben. Nehmen wir zum Beispiel unsere Träume: verrückte Geschichten, die keinen Sinn ergeben. In einigen Völkern gelten Träume als die wahre Realität. Ich kenne nicht die Antwort darauf. Aber ich denke, dass wir nach dem Aufstehen lieber unsere Träume in ein Buch schreiben, uns Gedanken über Dinge machen, uns selbst ausdrücken sollten, als immer gleich nach dem Smartphone zu greifen. Denn es bietet uns nichts außer maßgeschneiderte Wünsche, Ängste und Begierden. Das ist übrigens auch der tiefere Sinn unserer Ausstellung: uns unserer Unbedeutsamkeit in diesem Kosmos, aber zur selben Zeit auch unserer Einzigartigkeit bewusst zu werden.
- Aby Warburgs Vermächtnis wird in Hamburg ausgestellt
- Neue Kunstmessen: Erfolgreicher Einstand in Hamburg
- Hamburger Deichtorhallen fliegen zum Asteroiden Vesta
Besucherinnen und Besucher können Teil des Teams werden, Interaktion ist ein wichtiger Faktor in der Ausstellung. Wie wollen Sie die Leute dazu bringen, mitzumachen?
Sachs: Ich glaube, dass die Hamburger wirklich Kunst lieben, ich wurde hier sehr begeistert empfangen. Aber ich mache mir auch keine Gedanken darüber, wie die Ausstellung ankommt, denn letztlich mache ich das für mich und mein Team. Wenn wir uns allein darauf konzentrieren, wird es für alle die beste Erfahrung werden. Ich gebe den Menschen einfach das, von dem ich weiß, dass sie es brauchen.
Die Ausstellung „Tom Sachs. Space Program: Rare Earths (Seltene Erden)“ läuft regulär vom 19. September bis zum 10. April 2022 in den Deichtorhallen, Halle für aktuelle Kunst (U Steinstraße), Di-So 11.00-18.00, jeden 1. Do im Monat 11.00-21.00, Eintritt 12,-/7,- (erm.), deichtorhallen.de
Zwölf Stunden dauert die Live-Demonstration, die schon an diesem Sonnabend (18.9., ab 10 Uhr) beginnt, eine „Marathon-Activation“, bei der Besucherinnen und Besucher in der Halle oder auf dem Deichtorhallen-Platz hautnah dabei sind. Achtung: Diese Veranstaltung ist ausgebucht! Restkarten je nach Publikums-Aufkommen womöglich noch an der Tageskasse. Wichtig: Es gilt die 2G-Regelung.