Hamburg. Einmal „Lambada“, bitte, oder „Mambo No. 5“ – über unvergessliche Ferien-Momente, ihre spezielle Aura und aufwallende Erinnerungen.

Natürlich gibt es eine Art Gleichung. Ein Patentrezept. Es gibt für fast alles, was erfolgreich ist, eine Formel. Bei Sommerhits ist es so, das haben Wissenschaftler einmal herausgefunden, dass bestimmte Akkorde und vor allem ihre Anzahl entscheidend sind. Außerdem müssen Sommerhits tanzbar sein. Es wird alles einfach gehalten: Text, Melodie, Songstruktur. Lateinameri­kanische Einflüsse? Gerne. „Macarena“, „Mambo No. 5“, „Despacito“, „Señorita“ usw. usf. – der ganz klassische Sommerhit ist so dermaßen ein Ohrwurm, dass man ihn noch Jahrzehnte später nicht vergessen hat.

Kann sein, dass jemand 1996 oder 2017 zu den „heißen Rhythmen“ geknutscht hat, das Herz pumpend, erste Male sind so schön treibend, intensiv, und sie haben einen Soundtrack: zufälligerweise den Jedermann-Song, es war August, und alle summten ihn mit. Oder ganz anders, dass jemand noch Kind war. Aus dem Garten kam, nasse Haare, die hitzige Schliere aus Schweiß, Sonnenmilch, Planschbrühe auf der Haut, Grasfetzen unter den Sohlen, ins Kühlere ging. Ins Wohnzimmer, wo einer oder eine Eistee servierte, meist die Mutter. Ausnahmsweise kein Motzen, dass der Dreck nicht draußen blieb. Und dann kam aus dem Radio das Lied, das dort und auch anderswo halt immer lief.

Musik bringt längst vergangene Momente zurück

Es kann aber auch sein, dass es ganz andere Lieder waren, die damals liefen und die heute dafür sorgen, dass man auf der Straße der Erinnerung geht, wann immer man sie hört. YouTube oder Spotify kann sie einem, „Zufall“ ist das sicher nie, man missinterpretiere nie den Algorithmus, einfach so mal reinmischen. Es mag die gegenwärtige Jahreszeit sein, dieser Sommer, der zwar einer der Erschöpfung ist nach all dem Terz, aber trotzdem: ein Sommer des Zusammenseins. Es mögen diese Augenblicke draußen auf dem Balkon oder im Park sein, die uns an frühere Sommermomente denken lassen.

Bellinins „Samba de Janeiro“, wann war’s? Richtig, 1997!
Bellinins „Samba de Janeiro“, wann war’s? Richtig, 1997! © dpa

Deshalb ist dies eigentlich kein Text über die supererfolgreichen, auch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen noch oft gehörten (was heute auch heißt: ge­streamten) Sommerhits, sondern von diesen ausgehend über süße Erinnerungen, durch Musik hervorgerufene Aufwallungen des Vergangenen, über das Zurückgeworfensein in Situationen, die längst verblasst sind, aber unauslöschlich.

Klänge lösen Emotionen aus

Es gibt nämlich kein besseres Gefäß für Nostalgie als Popmusik. Prousts Madeleine ist in Wahrheit immer schon ein Lied gewesen. Wie kann es anders sein? Was brächte schneller und unwiderstehlicher Erinnerungen zurück als Musik, und es muss dabei noch nicht einmal die schwerromantische Losung „Liebling, sie spielen unser Lied“ sein?

„Macarena“: Los del Rio regierten den Sommer 1996.
„Macarena“: Los del Rio regierten den Sommer 1996. © picture alliance

Über Musik, sei es Pop oder Klassik, ist viel behauptet worden, nicht selten mit neuronaler Unterfütterung: Dass sie schlau macht zum Beispiel, weil so viele Hirnareale aktiviert werden; am meisten dann, wenn man selbst musiziert. Aber um allzu weitreichende Verknüpfungen oben in der Rübe muss es ja gar nicht gehen, es reicht der Effekt, dass Klänge Assoziationen wecken, Emotionen auslösen. Sonst wäre der beseelte oder aufgewühlte Gang aus Konzertsälen, Stadien, Clubs eine bloße Erfindung: Und das ist er sicher nicht! Musik ist ein Gefühlsbooster, und sie ruft Episoden hervor, die für immer auf der Speicherkarte sind.

Für jede Ferien gab es einen Song

Als ich ein Kind war, fuhr ich in jeden Sommerferien mit meinem Bruder eine Woche zu meinen Großeltern. In der Waschküche, in der mein Großvater sein Mittagsschläfchen machte, stand ein Transistorradio. Ich weiß noch, wie klein es mir immer vorkam, und dass die Antenne immer genau ausgerichtet sein musste. Wir durften manchmal, als wir fünf waren oder sechs, den Traktor lenken, auf Opas Schoß sitzend. Wir durften „Alf“ schauen, wir rannten durch die Weinberge am Hang, und der Höhepunkt war immer die Fahrt mit Oma nach Cochem, wo sie mit uns Pizza essen ging.

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Für jede Ferien gab es einen Song, original Sonne-und-Strand-Kram wie „Lambada“, den Hit aus dem Jahr 1989. Er lief in der Waschküche, und wahrscheinlich nervte er damals schon. Anders als „Ella, elle l’a“, der Ella-Fitzgerald-Hommage, ein zeitloser Song, der heute noch oft aus dem Radio schallt. Wenn ich morgens auf NDR2 France Gall höre, bin ich, nur ganz kurz, für einen schwebenden Moment, zehn Jahre alt und unbeschwert. Zurück im Kindheitsparadies, als Richtig-lange-Aufbleiben aufregend war und man noch das Gefühl hatte, es gäbe so viel zu verpassen, wenn man nicht aufpasste. Ein Teil von mir wäre gerne noch mal jung dann.

Manche nennen es Nostalgie, andere Sehnsucht

Deshalb haben Popsongs diesen unglaublichen Effekt, der unser gegenwärtiges Selbst mit den früheren Versionen verbindet. Mit Situationen, Lebensabschnitten, Menschen, die es manchmal längst nicht mehr gibt. Ein Popsong kann immer und überall für atmosphärische Verdichtung sorgen. In der Vergangenheit war er der Soundtrack für einen Urlaub, und danach ist er immer wieder der Erinnerungstreiber. Manche sagen Nostalgie dazu, andere Sehnsucht; und banal ist daran gar nichts, im Gegenteil. Es ist alles Magie.