Hamburg. Nach sehr erfolgreichen Sachbüchern hat Constantin Schreiber nun mit „Die Kandidatin“ eine düstere Zukunftsvision geschrieben.
Das „total“ kommt erst am Ende, jenes im deutschen Sprachgedächtnis vergiftete Wort. Später wird es heißen: „Wir wollen die totale Diversität.“ Hier, im ersten Satz dieses gleichzeitig bemerkenswert schlicht geschriebenen und faszinierenden Romans, brüllt einer auf einer Demo die Frage „Wollt ihr absolute Diversität?“ in die Menge. Es sind die 2050er-Jahre, eine Bundestagswahl steht an. Das Land ist ein Treibhaus, in dem mit harten Bandagen gekämpft wird.
Weltanschaulich liegen tiefe Gräben zwischen den Menschen. Die Gesellschaft ist tief gespalten. In den Teil, der früher mal die Majorität stellte: bestehend aus den reinrassigen Biodeutschen. Und den Teil, der lange schon im Aufwind ist, seine Interessen aber noch längst nicht durchgesetzt hat – die Privilegierten teilen Geld und Macht immer noch unter sich auf. Aber die Menschen mit Migrationshintergrund, homosexueller Orientierung, nicht-binärer Identität, nicht-christlichem Glauben sind als Gesamtgruppe überwältigend stark geworden. Sie haben ein „Vielfältigkeitsmerkmal“. Und das ist der große Spaltpilz des zukünftigen Deutschlands.
Constantin Schreiber Sprecher der „Tagesschau“
Des Deutschlands, wie Constantin Schreiber es in seinem ersten Roman „Die Kandidatin“ mit konsequenter Hingabe an die gesellschaftlich-politische Spekulation entblättert. Constantin Schreiber? Genau, das ist der, der seit Anfang des Jahres neuer Sprecher der „Tagesschau“ ist, und, Spaßfakt, zunächst einmal vor allem viele Zuschauerinnen und Zuschauer vom Äußeren her an „Superman“ Christopher Reeve erinnerte.
Ungewöhnlich ist der 41-jährige Hamburger durchaus. Der Nachrichtensprecher hat sich bereits in jungen Jahren mit dem Themenschwerpunkt Islam und einigen Bucherscheinungen (u. a. „Inside Islam – Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“) profiliert. Schreiber, der nach mehreren Aufenthalten in Nahost Arabisch spricht, mangelt es nicht an erzählerischer Chuzpe und Selbstvertrauen. Er ist der Anchorman, der weitaus mehr sein will als nur Nachrichtenvorleser.
„Die Kandidatin“: Sabah Hussein
Zum Beispiel einer, der romanhaft die gesellschaftlichen Konfliktlinien zu Ende denkt. Im Mittelpunkt von „Die Kandidatin“ steht Sabah Hussein, eine zunächst in einem Flüchtlingslager und dann in Deutschland aufgewachsene Politikerin, die Kanzlerin werden will. Als Kandidatin der Öko-Partei. Die ist auch öko, vor allem aber an Chancengleichheit interessiert. Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft: Benachteiligungsnachweise im Perso, verpflichtende Diversitätsquote für alle Führungsebenen in deutschen Unternehmen, Letzteres in Form eines Diversitätsgesetzes, wonach in Managements nicht mehr als 25 Prozent Männer sein dürfen, „die nicht eine nicht-weiße Hautpigmentierung haben“.
In Städten wie beispielsweise Hamburg sollen Migranten gezielt in rein weißen Gegenden angesiedelt werden. Längst ist in anderen Metropolen wie Berlin der Islam die vorherrschende Religion. In Behörden ist es Pflicht, in diesem Zusammenhang ausschließlich von der „Friedensreligion Islam“ zu sprechen. Die Political Correctness wiederum ist mit dem Verbot des „K-Worts“ auf die Spitze getrieben. Wer noch vom Kopftuch spricht, stellt sich ins Abseits. In 30 Jahren sagt man in Deutschland „Hijab“. Halleluja!
Über 70-Jährige kein Wahlrecht mehr
Außerdem ist die von vielen ersehnte Welt von der tatsächlichen noch weit entfernt: Migranten haben eine geringere Lebenserwartung und die schlechteren Jobs. Abhilfe soll unter anderem geschaffen werden, indem in Deutschland lebende Menschen mit Aufenthaltsstatus künftig wählen dürfen, über 70-Jährige aber nicht mehr. In der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen haben 70 Prozent ein „Vielfältigkeitsmerkmal“. Kein Wunder, dass Sabah Hussein in den Umfragen weit vorne liegt.
Das, was Schreiber in einem schnell und literarisch eher unambitioniert geschriebenen Text darlegt, klingt wahlweise nach Schnappatmung bei Anhängern der These, dass das Abendland mal wieder untergeht, oder nach schwarzrotgoldenem Ausblick mit satirischem Anstrich. Was das Handwerkliche angeht, sei auf Michel Houellebecq verwiesen. Niemand würde behaupten, dass „Unterwerfung“ ein stilistisches Meisterstück ist.
Schreckbild einer Diversity-Diktatur
Aber der Franzose ist sicherlich der amüsantere Autor. Seine dystopischen Bücher sind oft schreiend komisch. Constantin Schreiber gönnt sich jedoch in seinem prallen Stück – Klimax ist ein Politikerattentat – durchaus inhaltliche Kapriolen, die einen belustigt zurücklassen (sollen). „Die Kandidatin“ malt das Schreckbild einer Diversity-Diktatur, in der der Zeitgeist die Menschen zu bizarren Unternehmungen treibt: „Und Schlagzeilen gemacht hat, wir erinnern uns, der Skandal um Stefan Fritz. Der Schauspieler, der für eine Rolle abgelehnt wurde, weil er weiß ist, und sich darauf den Fuß abgesägt hat. Danach verlangte er, berücksichtigt zu werden, weil er behindert sei.“
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Sabah Hussein findet es übrigens, „prima, dass 007 jetzt eine diverse Agentin ist, eine schwarze, lesbische Frau mit Behinderung“. James Bond, das Urbild von Männlichkeit, völlig dekonstruiert. Sind das in Wirklichkeit die Folgen der Identitätspolitik, vor der immer alle warnen?
Überwachung der Kommunikation
Ganz so witzig sind nicht alle Bestandteile des Tableaus, das der Roman auftischt. Das so schöne Ziel der Aufstiegs- und Selbstentfaltungsfairness ist zum Fetisch entstellt; es ist, wieder mal, das Gutgemeinte, das in Totalitarismus umzuschlagen droht. Der Roman überschlägt sich, gerade das macht seinen Reiz aus, mit Ideen, wie die neue Gesellschaft und in ihr der neue Mensch ideal gestaltet werden kann.
Das geht nicht ohne Überwachung der Kommunikation und der sozialen Netzwerke. Jene spielen in der Zukunft, die der Roman entwirft, na klar, noch eine größere Rolle. Unabhängige Medien und Redaktionen gibt es nicht mehr, die Menschen informieren sich bei Bloggern, Twitter, YouTube und den Internetangeboten der Parteien. Es lebe die Blase, es lebe die Echokammer, in der man immer nur das hört, das man hören will.
„Newsroom für wahre Information“
Voilà: Ein von Unternehmern und Interessenvertretungen gegründeter Verein mit dem Namen „ProMann“, der eine 30-Prozent-Quote für weiße Männer in Medien und Politik von fordert, ist schon mal gut. Es muss jedoch mehr für die Diversitätsgegner getrommelt werden. In den Parlamenten tut das die Partei ZfN, Zukunft für Deutschland.
Die Gegenbewegung zur Multikultiwelle wird von Hamburg aus gesteuert. Im noblen Nienstedten befindet sich der „Newsroom für wahre Information“, von dem ein Unternehmer die Linken unter Beschuss nehmen lässt. Dieser Mann, dessen Internetseite „tnt news“ heißt und der an Publizisten wie Steve Bannon erinnert, verkörpert den Hass auf die andere Seite in Reinform.
Schreiber lässt China als Umweltschutzsupermacht werden
Wie sieht die Welt in diesem Gedankenspiel aus? Nun, das reiche China, in dem der greise Xi Jinping immer noch regiert – genauso wie „Diktator Erdogan“ in der Türkei –, hat die ganze Welt im Sack. Auch Deutschland ist von seiner Technologie und seinen Investitionen abhängig. China ist auch Umweltschutzsupermacht, weil sich damit Geld verdienen lässt. Amerika kommt in dieser Weltordnung fast gar nicht mehr vor.
Ein Roman wie dieser ist notgedrungen vor allem an der Handlung interessiert. Sabah Hussein wird Opfer einer Intrige, als kompromittierendes Material über sie die Runde macht. Bei einem Besuch in China wird ihr vorhergesagt, dass sich „eine Schlange“ in ihrem Umfeld befindet. Da weiß man dann schon recht früh, wohin der Hase läuft. Das macht aber nix, wenn man auch den anderen eigentlichen Mängeln nicht zu viel Bedeutung beimisst: dass jede Figur ihre Rolle zu spielen hat und nirgendwo eine Entwicklung stattfindet. Aber das ist im Genre der Dystopie ja oft so.