Hamburg. Am Sonnabend zeigt das Schauspielhaus die legendäre Inszenierung mit Susanne Lothar als “Lulu“ im Stream. Ulrich Tukur erinnert sich.

Blut, Schweiß und Tränen. Hemmungslosigkeiten, Männerfantasien, Grenzüberschreitungen. Eine zugleich schamlose wie schamlos ausgestellte, unendlich starke wie rührende und sich direkt ins kollektive Theatergedächtnis spielende Hauptdarstellerin. Ein so vorhersehbarer wie deftiger, effektbegabter Theaterskandal.

Als Peter Zadek, 1988 Noch-Intendant am Hamburger Schauspielhaus, aus Frank Wedekinds „Lulu“ ein grelles, unerschrockenes Ereignis machte, eine ewige Referenzinszenierung auch, die sich in alle künftigen „Lulus“ einbrennen sollte, hat man sich die Vorstellungen noch nicht zu Hause auf den Laptop-Bildschirm gestreamt. Man hat im vollen Theatersaal (in dem in diesem Fall durchgehend Licht brannte) mitgefiebert, mitgeatmet.

Hamburger Schauspielhaus überträgt „Lulu“ im Stream

Mit der halb nackten Susanne Lothar in der Titelrolle, die dafür später zur „Schauspielerin des Jahres“ gekürt wurde, mit dem schwitzenden Berserker Ulrich Wildgruber, der über die riesige Kulissentreppe spektakulär in den Bühnentod krachte, mit Uwe Bohm als Jack the Ripper, mit Christian Redl, Matthias Fuchs, Jutta Hoffmann, Heinz Schubert, mit dem jungen, aufregenden Ulrich Tukur, der erst das zweite Mal mit Zadek arbeitete. Der Regisseur habe das Stück „seinen Schauspielern zum Fraß hingeworfen“, schrieb Hellmuth Karasek im „Spiegel“, „und die haben es mit Vergnügen und Hingabe verschlungen“.

An diesem Wochenende sendet das Schauspielhaus nun eine Aufzeichnung der legendären Inszenierung. Eine „Monstre-Tragödie“ als Droge gegen den seit Monaten anhaltenden Phantomschmerz im Kulturlockdown. Hamburger Theatergeschichte.

„Die Proben kamen mir schier endlos vor“

Vier lange Monate hatte Peter Zadek das Ensemble damals unerbittlich proben lassen, mehrfach war die Premiere verschoben worden. „Die Proben kamen mir schier endlos vor“, erinnert sich Ulrich Tukur. „Aus der ein oder anderen Szene habe ich mich dann klammheimlich herausgenommen, um mich hinter der Bühne aufs Ohr zu legen. Zadek hat es nicht bemerkt.“

Noch zwei Wochen vor der Premiere sei er der Überzeugung gewesen, die Inszenierung würde „krachend scheitern“, gesteht der Schauspieler. An mangelnder Aufmerksamkeit litt die Produktion nämlich nicht: 10.000 explizite Plakate waren über die gesamte Stadt verteilt, auf Litfaßsäulen und Plakatwänden starrte ein gnomenhafter Heinz Schubert auf Susanne Lothars überlebensgroße nackte Scham.

Strafanzeige wegen Pornografie

Eine Bürgerinitiative erstattete Strafanzeige wegen Pornografie, Hamburgs Frauenbeauftragte Eva Rühmkorf empörte sich ebenso wie viele Bürger über die „Riesensauerei“. (Ausgerechnet Alice Schwarzer übrigens nahm den verantwortlichen Plakatkünstler Gottfried Helnwein in Schutz.)

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Der Skandal sei ihm egal gewesen, sagt Tukur. „Dass es einer würde, war ja von Anfang an klar, aber ein Skandal ohne Substanz wäre schrecklich gewesen. Mich hat gefreut, dass es uns tatsächlich gelang, einen Theaterabend auf die Beine zu stellen, der niemanden kalt ließ und zu einer Art Legende wurde.“ Die Premieren-Verschiebung habe vor allem damit zu tun gehabt, dass Susanne Lothar ihre Rolle zunächst „nicht wirklich geknackt hatte“.

Inszenierung „flog in den Theaterhimmel"

„Dann allerdings passierte etwas, das typisch für die Zadek’schen Inszenierungen war, im Schlussspurt ging bei Susanne plötzlich der Knopf auf, und das ganze bis dahin sehr anstrengende Unternehmen nahm auf einmal Fahrt auf und flog in den Theaterhimmel.“

Ohne sie hätte dieser Abend nicht funktioniert, urteilte auch Karasek damals: „Zadek kann auf Konzepte verzichten, weil ihm Susanne Lothar, die sich in die Rolle stürzt wie in eine lebensgefährliche Fahrt auf einer rasenden Berg-und-Tal-Bahn, das Stück auf atemberaubende Weise zusammenhält.“ Einen „Balanceakt zwischen Lebens-Echtheit und Theater-Kunst“, attestierte das Bühnenmagazin „Theater heute“.

Premiere im Februar 1988

Ob man die „gefährliche Kindfrau“ heute noch auf dieselbe Weise erzählen würde? Ulrich Tukur ist skeptisch: „Zadek hat sich immer einen feuchten Dreck um Etikette und Korrektheiten gekümmert. Gut möglich, dass das moralinsaure Jakobinertum, das ja auch vor den Theatern nicht Halt macht, eine solche Inszenierung heute mindestens als frauenfeindlich, als moralisch und politisch inakzeptabel verurteilen würde. Denken Sie an Zadeks ,Othello’ mit dem schwarz angemalten Ulrich Wildgruber in der Hauptrolle. Mich würde allerdings sehr interessieren, wie sich Zadek heute angesichts des Druckes verhielte, es allem und jedem recht zu machen.“ Ihm und seiner Partnerin habe der Regisseur jedenfalls „jeden Quatsch erlaubt“.

Im Februar 1988 wurde die Premiere gefeiert. Ein „vollkommener Erfolg“, hieß es damals im Abendblatt, „eindeutiger Beifall für alle, auch für den buh-gewohnten Regisseur“. Für Tukur war „Lulu“ das zweite große Zadek-Abenteuer; „verrückter, schmutziger und wahnsinniger“ als „Ghetto“. Dass er an beiden Produktionen teilhaben durfte, macht ihn noch heute stolz: „Sie waren die Höhepunkte meines Theaterlebens.“

Hamburger Publikum von „Lulu“ hingerissen

Das Publikum war erst recht hingerissen, vielleicht auch ein bisschen vom eigenen Stehvermögen: Fünfeinhalb Stunden dauerte die Vorstellung. Danach „kam man gar nicht mehr runter und wollte es auch nicht“, erklärt Ulrich Tukur. 31 Jahre jung war er damals. „Da ging es erst einmal in die Spelunken von St. Georg und danach weiter nach St. Pauli. Wir haben unseren Erfolg in vollen Zügen genossen, und vor der Morgendämmerung ging niemand ins Bett.“

Hemmungslos, maßlos durchfeierte Nächte. Auch etwas, woran sich heute nur noch die Älteren erinnern.

„Lulu“ im Stream, 17.4., ab 20 Uhr für 24 Std. verfügbar, Karten 6,50 Euro, schauspielhaus.de.