Hamburg. Nico Suave ist ein Kind der Provinz, aber die Musikstadt Hamburg ließ ihn einfach nicht los. Ein Spaziergang in stiller Coronazeit.

„Warum bin ich so vergesslich? Ich weiß es nicht“: So begann vor 20 Jahren „Vergesslich“, ein Hamburger Hip-Hop-Klassiker, gerappt von Nico Suave. Ein Lied, dass nur in dieser Stadt entstehen konnte, genauso wie „Gedankenmillionäre“, das Suave kürzlich zusammen mit Johannes Oerding vorstellte. Es ist das Ergebnis einer Zufallsbekanntschaft in einer lebendigen lokalen Musikszene mit ihren Clubs, Bars, Studios, Labels und Verlagen – eine Szene, die seit einem Jahr weitgehend stillsteht. Wann geht es weiter. Und wer ist dann noch dabei?

Wir treffen Nico Suave vor dem J.O.D.-Studio in der Max-Brauer-Allee für einen Spaziergang durch die Schanze und St. Pauli, Hamburgs derzeit an mehreren Bypässen hängendem Herz der Popkultur. An nahezu jeder Ecke gibt es Stationen, die ihren großen oder kleinen Teil beigetragen haben, die sich in alten und neuen Platten wie „Vergesslich“, „Wir Kinder vom Bahnhof Soul“ (Jan Delay), „Dis wo ich herkomm“ (Samy Deluxe) oder „Influencer“ (Haiyti) wieder finden.

Und sei es eine Musikkneipe wie die Bernsteinbar in der Bernstorffstraße, dem Zubringer vom Kiez zur Schanze oder umgekehrt. „Hier habe ich oft Station gemacht beim Zug um die Häuser zum Waagenbau, zum Kleinen Donner oder zum Knust, oder auf Straßenfesten gespielt“, erinnert sich Suave.

Mit Dr. Dre beginnt Nico Suaves Hingabe zum Hip-Hop

Der heute 42-Jährige ist ein Kind der Kleinstadt, aufgewachsen in Menden im Sauerland. Nico und sein Zwillingsbruder sind 13, als sie sich das erste Dr.-Dre-Album „The Chronic“ kaufen und dem Hip-Hop verfallen. Mit dem Skateboard geht es zu einem alten, vollgesprühten Haus am See und ins Jugendzentrum, auf einem Kassettenrekorder entstehen die ersten eigenen Rap-Tracks, in Dortmund werden die Plattenläden nach dem heißesten Scheiß aus den USA abgegrast – oder aus Frankfurt und Hamburg: Rödelheim Hartreim Projekt, Absolute Beginner, Ferris MC, Fünf Sterne Deluxe. Rap auf Deutsch.

Das will Suave auch. Sein Mendener Jugendfreund Dendemann, Hälfte des aufstrebenden Duos Eins Zwo, nimmt den als Briefträger arbeitenden Nico Suave mit auf Tour, und zum ersten Mal versackt Suave 1999 im Hamburger Mojo Club. Das Jazzrocker-Loch an der Reeperbahn, das benachbarte Mandarin und der Ganja Club auf dem Hamburger Berg werden seine Wohnzimmer, als Suave nach Hamburg zieht.

Naiv im abgewichsten Haifischbecken Popgeschäft

Im Mojo entsteht 2001 das Video zu „Vergesslich“. „Das war schon eine irre Zeit, auch wenn ich naiv war im abgewichsten Haifischbecken Popgeschäft“, erzählt er, als wir zur Affenfaust Galerie und über die leer gefegte Große Freiheit marschieren. „An jeder Ecke kanntest du jemanden, kommst aus der Freiheit und triffst einen Kumpel, der dich ins Dollhouse schleppt, wo Eminem seine Aftershow feiert. Und dann weiter, kurze Wege, lange Nächte. Deshalb könnte ich auch nicht in Berlin leben."

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Stattdessen zieht Suave nach seinem zweiten Album „Mit Liebe gemacht“ 2005 zurück nach Menden. Seine damalige Partnerin kann in Hamburg nicht Fuß fassen, und für Suave bleiben Erfolge nach dem Abklingen der ersten deutschen Hip-Hop-Welle aus. „Zurück in der Kleinstadt habe ich mich hängen lassen und den Glauben an mich als Künstler verloren.

Private Schicksalsschläge machten aus einem geplanten Jahr fünf, und statt Musik zu machen, habe ich in der Fabrik und in Klamottenläden gejobbt“, erzählt er, als wir nach einem Abstecher zu den Boden-Portalen des Mojo Clubs („Mittlerweile kenne ich das Backstage-Passwort und schmuggele mich über die Tiefgarage rein“) an den Landungsbrücken stehen: „Immer wenn ich hier stehe, weiß ich: Ich bin wieder hier, wo ich nie weg wollte. Ich komme gern her, um ganz sicher zu sein“, sagt er und schaut lächelnd zum „König der Löwen“-Zelt auf der anderen Elbseite.

Als Suave 2010 zurück nach Hamburg zieht, lernt er die Musical-Sängerin Nima kennen. Heute, viele Fähren über die Elbe und Nächte in der Bernsteinbar später, sind sie verlobt und haben drei Kinder. Nima ist mittlerweile Backgroundsängerin bei Helene Fischer, Sasha und Peter Maffay: „Sie sieht die Stadien.“

Eine Popfamilie hat vielleicht andere Gesetze, aber auch sie erfordert unbedingte Disziplin. „Ich weiß nicht, wie wir das geschafft haben, aber ich arbeite als Vater konzentrierter, fokussierter, immer mit der Schließzeit der Kita im Hinterkopf. Als die Kleinste fünf Monate alt und Nima mit Helene Fischer auf Tournee war, hatte ich meine Tochter sogar mit ins Studio genommen und Demos eingesungen, während sie auf meiner Brust schlief.“

Sieht sich eher als Überlebenskünstler statt als Künstler

Derzeit gibt es keine Tourneen, und damit auch weniger Einnahmen für das Elternpaar. „Natürlich haben wir angespart, was für andere Dinge eingeplant war. Aber ich sah mich schon immer eher als Überlebenskünstler statt als Künstler. Ich mache nach wie vor Songwriter-Sessions, die gut bezahlt sind, und Werbemusik.“

 Seit einigen Jahren schreibt Suave hauptsächlich Lieder für andere Künstlerinnen und Künstler, darunter Jeanette Biedermann, Adel Tawil und Sasha. „Ich habe schon immer Pop und Rap geliebt und war nie der harte Undergroud-MC von der Straße. Wenn ich Pop nicht im Herzen feiern würde, könnte ich das gar nicht machen – und würde ohne diese Einnahmen jetzt wahrscheinlich in der Tankstelle arbeiten.“

Kennenlernen beim Geheimkonzert von Samy Delux

Kontakte sammeln sich in einer Stadt wie Hamburg schnell an. Netzwerke entstehen zwischen Sängerinnen und Sängern, Produzenten-Teams, Songwritern, Labels, Agenturen. Irgendjemand hat immer Lust, etwas mit anderen zu machen. Suaves Lied „Gedankenmillionäre“ entsteht als Songskizze bereits 2018, passt aber textlich gut zum ersten Corona-Jahr: „Während die Stadt schläft, machen wir Pläne. Wo andere schwarz sehen, sehen wir Sterne.“

 Die Idee reicht Suave an Freunde, Musiker und Produzenten zwischen Frankfurt und Hamburg herum, die weiter an Melodie und Text feilen, „und dann hat Johannes Oerding seine unfassbare Stimme raufgeschmissen“. Suave lernt Oerding vor neun Jahren bei einem der vielen Geheimkonzerte von Samy Deluxe, Gentleman und weiteren Popstars in Tim Mälzers „Bullerei“ kennen. Wieder so ein Zufall, aus dem Jahre später Musik wird.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Im September soll nun Nico Suaves neues Album „Gute Neuigkeiten“ erscheinen. „Meine besten Lieder, das gebe ich zu, hebe ich mir immer für meine eigenen Alben auf“, sagt er. Genug Songideen für den Nachfolger von „Unvergesslich“ (2015) hat er jedenfalls beisammen, als musikalische Gäste sind Teesy, Seven und Jeanette Biedermann dabei.

Die neuen, wieder zwischen Rap und Pop tanzenden Songs sind einen langen Weg gegangen – durch Tage und Nächte in Hamburg, auch in der alten Heimat Menden („Altes Haus“) und sogar in Hittfeld: Dort, sechs Kilometer vor der Stadtgrenze, leben Nima, Nico und die Kinder jetzt. „Ich habe nach einem Ort gesucht, der zu meinen Songs passt. Ein Feld, wo die Hits liegen“, sagt er. Und wirkt trotz Coronakrise ziemlich zufrieden.