Hamburg. Joachim Bessing erzählt autobiografisch von langen Club-Nächten in den Neunzigern – und von einem leicht angegammelten St. Pauli.
Die Nostalgie ist ihrem Wesen nach bitter-süß und, bei aller Schwere des Vergangenen, Unwiederbringlichen, leicht. Sogar beschwingt: Wie der Gassenhauer von einst, der Erinnerungen wachruft, freundliche Gefühle, ein Lächeln über das oder den, was oder der man einst war. Nichts, behaupten wir an dieser Stelle, ist so nostalgisch besetzt wie Musik. Oder die Jugend.
Joachim Bessings großartiges Buch „Hamburg. Sex City“ handelt von beidem. Zum Jungsein und der Musik, die zwar ohnehin und überall eine unzertrennliche Liaison eingegangen sind, gesellt sich in dem schmalen Memoire des 1971 in Bietigheim geborenen Autors der Ort, der jene Verbindung einst in besonderem Maße begünstigte: die Freie und Hansestadt Hamburg. In den 1990er-Jahren war sie popkulturell die aufregendste Stadt des Landes, Sehnsuchtsort und Kapitale der Coolness und des Eingeweihtseins. Hamburg war das alles so lange, bis jeder nach Berlin ging und die Hauptstadt die Führungsrolle übernahm.
Glänzend geschriebener und eigentümlicher Text
Was Hamburg einmal war und vermutlich nie mehr sein wird: Davon erzählt Bessing in „Hamburg. Sex City“, einem glänzend geschriebenen und eigentümlichen Text, der Hommage ist und Bildungsroman, vor allem aber Porträt einer Stadt, die vor 30 Jahren eine ganz andere war und doch die gleiche wie heute.
Es ist nicht allein die damalige Topografie zwischen Golden Pudel Club und Reeperbahn, die heute als ein Fall fürs Museum erscheint und in Bessings Buch zu ihrem Recht kommt. Präsentiert wird, gleich zu Anfang, ein vertrautes, grundsätzliches Hamburg-Bild, wie es sich aus der Ferne der Unwissenheit zusammensetzt. „Beinahe meine ganze Jugend hindurch dachte ich, Hamburg liegt am Meer“, so setzt dieser Text ein, der im Folgenden in knapper Weise eine Charakterisierung seines Gegenstands in soziologischer, geschichtlicher und kultureller Hinsicht gibt.
Der Ich-Erzähler ist der junge Mann, der dieser Erzähler einmal war. Ein Süddeutscher aus dem baden-württembergischen Örtchen Heimerdingen, der als Teenager erstmals mit dem IC in den Norden reiste und dessen Vorstellungen Hamburg betreffend viel mit der Zeitgeist-Zeitschrift „Tempo“ zu tun hatten, die in der Hansestadt erschien (von 1986 bis 1996) und ihre Wirkung auch und besonders in der Provinz entfaltete.
Die Jungakademiker leben in WGs auf St. Pauli
Man lese diesen ersten Teil des Buchs, eine Art Exposition, und lasse sich vom Coming-of-age-Charme Bessings gefangen nehmen, und besonders von der Annäherung an den erstmals aufgesuchten Sehnsuchtsort. Wie der minderjährige Erzähler und sein Begleiter am Hafen wegen möglicher Industriespionage festgenommen werden und danach aus der Stadt verwiesen werden: schöne Legende, die es stets zu erzählen lohnt. Aber erzählerisch noch stärker sind auch in diesem frühen Teil des Texts die Passagen, die dem Handlungsort gewidmet sind. Bessing schreibt ein zeitlos schönes, elegantes Deutsch, punktuell durchschnitten von smarteren Sätzen.
Die erste Hamburgbeschreibung ist ganz und gar klassisch gehalten, sie sei ganz zitiert: „Mir schien, dass alles, was eine Farbe besessen hatte, dort an der Hamburger Decke aufgelöst wurde in ein unendliches Grau. Und von daher das Leuchten. Ein spezielles Licht, wie kurz vor einem schweren Gewitter, brachte die goldene Uhr an einem Kirchturm zum Leuchten wie eine zarte Einlegearbeit. Die Patina auf den Dächern – spitzförmige, auch gewölbte dazwischen – gloste grünlich.
Ungut war der Effekt des Hamburger Himmels auf das Fassadenweiß: Es wirkte vergraut. Auch insgesamt betrachtet, von der anderen Seite des Elbufers aus, wirkte diese Stadt auf mich abweisend, dadurch auch herrschaftlich, wenn auch ganz anders als von mir erwartet. Leicht kaputt, auch angegammelt, trotzdem seriös.“
Das Faulige, Schmutzige und Überreife des Nachtlebens
Er wird später in dieser Stadt, nachdem er in sie übergesiedelt ist, aufgehen, von ihr aufgenommen werden. Das Abweisende wird verschwinden, vielleicht auch, weil das Angegammelte seinen Reiz voll entfalten wird. Es ist das Faulige, Schmutzige und Überreife des Nachtlebens, das bei Licht betrachtet ganz großartig ist.
Während sich der Schüler auf großer Hamburg-Fahrt noch in den Fragen der Bezeichnungen („Grob gesagt ist Hamburg für das schwäbische Ohr aus lauter kuriosen Namen gemacht. Am Stintfang wurden vielleicht früher einmal Fische gefangen. Aber wer war der Große Burstah?“) ergeht, entblättert sich vor dem Studenten, der Anfang der 90er-Jahre nach Hamburg zieht, das Rätsel der Identitätsfindung unter besonderen Vorzeichen. Wie wird man jemand, wenn man an einem Ort lebt, der popkulturell die Speerspitze der Nation bildet?
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Das Tableau, das Bessing auffährt, funktioniert als altbekannte Versuchsanordnung. Aus dem Dorf in die Stadt kommt der junge Mann, um sein Leben an einem fordernderen Ort als dem ursprünglichem zu meistern; und in diesem speziellen Falle dabei den Geist der aufregenden, stilbildenden großen Metropole aufzusaugen.
In „Hamburg. Sex City“ tritt das Jungakademikertum auf, das in WGs auf St. Pauli lebt, in denen sich keine Heizungen befinden und Nasszellen als Duschen dienen. Die jungen Menschen, mit denen sich der Erzähler umgibt, stammen alle aus derselben Gegend wie er. Es ist die auch verbale (über grundsätzliche Fähigkeiten im Hochdeutschen wird übrigens nichts gesagt!), durchaus angemaßte Schwabenpower, die den Hamburger Berg regieren will.
„Hamburg. Sex City“ hängt Lametta um die Epoche
Dort, in der Bar „Sorgenbrecher“ treffen sich die Studenten und schwingen Reden. Die um „einiges empfindlicher gestimmte Gesinnung der Hamburger“ weiß mit den süddeutschen Lautsprechern nicht immer umzugehen. „Lustvolle Diskurse“ gefallen nicht jedem, aber ein Lokalverbot für alle Schwaben wird nicht verhängt, obwohl manche dies fordern, „darunter illustre Persönlichkeiten wie der Sänger Schorsch Kamerun, der Sänger Rocko Schamoni und ein Sänger, dessen Künstlername Serafin gerade nicht einfallen wollte, der aber laut Spex stark im Kommen war“.
Serafin? So heißt tatsächlich eine der hier auftretenden Figuren. So heißen eigentlich nur Menschen in Fantasyromanen. Es ist auch sonst das Personal fernliegender Erzählwelten, das „Hamburg. Sex City“ namentlich bevölkert: Xerxes, Elektra, Lukullus. Antike Heldinnen und Helden also. Weil das Nachtleben Hamburgs für die Ältergewordenen wie Joachim Bessing längst zum Mythos geworden ist? Der Verdacht liegt nahe. Um die schöne Elektra wird es einen Tanz von Verehrern und Liebhabern geben (eine andere langbeinige Frau trägt, das nebenbei, den Namen Venus Augstein), ihr weiteres Schicksal, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll, läutet das Ende der glorreichen Hamburg-Jahre ein, die des Erzählers und die der Szene, in der er sich bewegte.
„Hamburg. Sex City“ lässt keine Gelegenheiten aus, Lametta um die Epoche zu hängen, die es porträtiert. Einerseits bescheidet sich Bessing mit den schlichten Beschreibungen Hamburger Nächte im Pudel („Vom Hochsitz her schallte die launige Rede des Conférenciers, einem Lulatsch, der hinter seinem Leselämpchen einen einzigen Schallplattenspieler bediente“) und aussagekräftigem Namedropping: Frank Spilker im Undergroundclub an der Hafenstraße, Jochen Distelmeyer beim Privatkonzert in seiner Wohnung in den Grindelhochhäusern. Ja, diese Stadt war sexy in den Jahren, als in ihr die „Hamburger Schule“ zu Hause war.
Und andererseits heißt es recht explizit — und das einschränkende erste Wort dieser Feststellung klingt beinah ironisch, jedenfalls nicht tief empfunden: „Möglicherweise unterschied sich Hamburg mit seiner von St. Pauli bis Eimsbüttel und Altona umhegten Szene sogar vom kulturellen Leben in jeder anderen deutschen Großstadt in jenem Jahrzehnt nach dem Mauerfall. Durch eine Dispersion von Musik und Theorie in einer gemeinsamen Form alltäglicher Praxis, dem, wie es hieß: Handeln im sozialen Raum.“
In vielen Stadtteilen gab es gut frequentierte Plattenläden
Für derlei „Dispersion“, also Verteilung, brauchte es Boten, Agenten, Träger. Von der Popkultur hochgradig infizierte Menschen wie den Erzähler also, die für „die Identitätsfindung als Städter“ wie unzählige andere den Identitätsverlust als Dörfler in Kauf nehmen, ihr Studium selbstverständlich frühzeitig abbrechen und im Univiertel nur noch an den Musikfachgeschäften interessiert sind und an ihrer Auswahl von schwarzer Musik, sei sie nun Mojo-Club-tauglich oder nicht. Als Hamburg legendär war, logierte die Plattenrille noch in der Rutschbahn, und es gab Plattenläden in vielen Stadtteilen. Wie gesagt, „Hamburg. Sex City“ ist eine durch und durch nostalgische Betrachtung.
Es ist, so funktioniert „die Szene“ wohl nicht nur in Hamburg, eine gewisse Blasiertheit, die den Zugezogenen zu eigen ist, die ihr Tages- und vor allem ihr Nachtleben auf St. Pauli und im Schanzenviertel verbringen. In andere Bezirke der Stadt fahren sie nie, auf diese Idee „kam ich irgendwie nicht“. Weshalb dieses Buch als Hamburgensie dann doch auch wieder special interest ist.
Alle Herrlichkeit hat ein Ende. Im Falle Joachim Bessings, der später als Autor und Journalist in Berlin arbeitete, den berühmten Gesprächsband „Tristesse Royale“ herausgab und heute in Frankfurt am Main lebt, fiel das Ende der Jahre als junger Mann mit dem Ende von Hamburg als stilbildender Popmetropole zusammen. Als DJ ging er mit Ted Gaiers (Die Goldenen Zitronen) Zweitband Die Stars auf Tournee. Dann endete eine Liebesgeschichte im Nachklapp doch recht tragisch. Das Ende dieses bemerkenswerten autobiografischen Buchs sieht ihn in Jamaika unter einem ganz anderen Himmel als dem hamburgischen. Aber grau war seine Zeit in Hamburg nicht in diesen Jahren der Empfänglichkeit, für die jenes Hamburg doch ein guter Ort war.
Joachim Bessing und Christian Werner (Fotos): „Hamburg. Sex City“, Matthes & Seitz Berlin, 188 Seiten, 16 Euro