Hamburg. Die Aktion führt in geschlossene Ausstellungen und soll Blinden die Teilhabe ermöglichen. Auch für Sehende eine tolle Erfahrung.

„Im Vordergrund erkenne ich eine Laute, flankiert von einer Flöte und einem Akkordeon, dazwischen könnten aufgeschlagene Notenblätter liegen. Die Farbigkeit geht zurück, Weiß, Braun und Grün dominieren das Bild, die Gegenständlichkeit löst sich zugunsten der Flächigkeit auf. ,Die Musikinstrumente‘ von 1908 ist ein zentrales Gemälde im Schaffen des französischen Malers Georges Braques; es symbolisiert seinen Übergang zum Kubismus.“

Anja Ellenberger beschreibt das Bild von ihrem heimischen Schreibtisch aus, ihre Zuhörer sind ebenfalls zu Hause. Das Bild, das Teil der Ausstellung „Tanz der Formen“ im Bucerius Kunst Forum ist, entsteht im Kopf.

Aus ganz Deutschland haben sich Menschen eingewählt

Ebenso wie Max Beckmann in der Kunsthalle oder William Kentridge in den Deichtorhallen wird voraussichtlich auch die Braque-Schau – trotz Verlängerung bis zum 30. April – nahezu ohne Publikum vor Ort zu Ende gehen. Aus dieser kulturellen Not heraus ist „Bei Anruf Kultur“ entstanden. Wenn die Besucher nicht ins Museum können, kommt das Museum eben zu ihnen nach Hause. Oder jedenfalls: ans Ohr.

An einem Mittwochnachmittag haben sich 15 Menschen für einen gemeinsamen Ausstellungsbesuch verabredet. Aus verschiedenen Stadtteilen Hamburgs, aber auch aus Berlin, Bielefeld, Frankfurt am Main und Bergisch-Gladbach haben sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer pünktlich um 16 Uhr in der speziell für sie reservierten Leitung eingefunden. Manche von ihnen sind blind, andere haben Seherfahrung, das heißt, dass sie ihr Sehvermögen erst später im Leben verloren haben. Andere wiederum haben noch ein Restsehvermögen. Auch zwei Journalisten dürfen an der Führung teilnehmen.

Berlin war Vorreiter bei Telefonführungen

Anders als bei manchen regulären Führungen, die vor Ort in Museen stattfinden, ist die Stimmung locker, fröhlich. Es werden Kulturtipps ausgetauscht, eine Teilnehmerin empfiehlt eine Wanderung mit anschließendem Ausstellungsbesuch im Neanderthalmuseum in Mettmann. Die Lust auf Kunst und Kultur, auf Austausch ist groß.

Und man erfährt auch, dass Berlin Vorreiter dieser „einfachen und genialen Idee“ war, so Melanie Wölwer vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg. Eine Berliner Kollegin hatte ihr von den Telefonführungen im Deutschen Historischen Museum erzählt, die während der Pandemie ins Leben gerufen wurden.

Telefonführungen als neuer Zugang zur Kultur

Kurzerhand organisierte sie „Bei Anruf Kultur“ mit den Hamburger Museen, unterstützt durch die Agentur Grauwert, Aktion Mensch und Stiftung Kulturglück. In jeder Woche wird eine kostenlose telefonische Führung angeboten. Was zunächst für Menschen mit Handicap entwickelt wurde, könnte zu einem dauerhaften Angebot in den Museen werden. „Diese Führungen bieten einen ganz neuen Zugang zu Kultur und zwar für alle Interessierten“, sagt Melanie Wölwer.

Es ist spannend und entspannend zugleich, sich einen Ausstellungsparcours auf diese Weise erzählen zu lassen, sich immer wieder aufs Neue auf ein Bild einzulassen, eine Information zu verarbeiten. Und doch ist die Verlockung, als Sehende schnell mal im Onlinekatalog nach dem gerade besprochenen Bild zu blättern, groß.

Das beschreiben, was man theoretisch sehen könnte

„Das Besondere ist, sich wirklich auf den Hörsinn zu konzentrieren und so das Erzählte in eigene Vorstellungen umzusetzen“, sagt Anja Ellenberger. Bei einer rein akustischen Führung komme es darauf an, für die Hörerinnen und Hörer einen Bildraum zu entwerfen, „das zu beschreiben, was sie theoretisch sehen könnten“. Die Braque-Führung habe sie anhand von ausgewählten Bildern vorbereitet und mit Anekdoten angereichert.

Anja Ellenberger arbeitet seit 2007 als Kunstvermittlerin in der Kunsthalle und im Bucerius Kunst Forum. Neben klassischen Führungen habe sie schon länger auch für den Blinden- und Sehbehindertenverein gearbeitet, sich als Kuratorin im Westwerk und als Autorin weitere Standbeine aufgebaut. Anders als viele Kolleginnen und Kollegen, die durch die Schließung der Museen derzeit hart getroffen werden, sei sie bislang „gut durch die Krise gekommen“.

Details aus Vita des Künstlers

Zwischen die Bildbeschreibungen streut die Kunstvermittlerin Details aus der Vita des Künstlers ein. Zum Beispiel, dass Georges Braque im Ersten Weltkrieg kämpfte, verletzt durch einen Granatsplitter im Kopf und stark traumatisiert zurückkehrte und seine motorischen Fähigkeiten wieder neu lernen musste, diese Erfahrungen aber nie in seinen Bildern verarbeitete.

Lesen Sie auch:

Zwischendurch gibt es immer wieder Moderationspausen für Fragen und Anmerkungen. Warum so ein herausragender Maler wie Georges Braque 30 Jahre lang keine größere Ausstellung in Deutschland hatte, möchte eine Teilnehmerin wissen. In Frankreich sei Braque hochverehrt, in Deutschland habe er stets im Schatten des Kubisten Pablo Picasso gestanden, mit dem Braque eine Zeit lang befreundet war und sich austauschte, so Anja Ellenberger. Picasso, der mit seinem Talent, aber auch seinem Humor und seinen Frauengeschichten heute das Zeug zum Popstar hätte. Braque dagegen nicht. „Keine Frauengeschichten, keine Skandale. Er lebte und liebte seine Frau. Punkt.“

Telefonführungen sollen bis zum Sommer weiterlaufen

Mit Braques berühmtestem Gemälde „Der Billardtisch“ von 1947, bei dem der Maler der Farbe Sand beimischte, um die Filzigkeit des Tischbezugs zu verstärken, endet die Telefonführung. Eine „tolle Erfahrung“ und „gute Anregung, sich mit dem Künstler zu beschäftigen“ – die Resonanz von den Zuhörerinnen und Zuhören ist durchweg positiv.

Durch die Finanzierung durch die Stiftung Kulturglück sollen die Telefonführungen bis zum Sommer weiterhin wöchentlich und kostenlos aus den verschiedenen Hamburger Museen stattfinden. Eine Idee, die in der Krise geboren wurde und die die Krise sicherlich überdauern wird.

Alle Infos zu weiteren Terminen und zur Anmeldung unter www.beianrufkultur.de.