Hamburg. Die Geigerin Rachel Harris schreibt über Orchesterhierarchie, Gruppen-Harmonie und von der geheimen Macht der Pauken und Trompeten.
Was machen Musiker, wenn sie nicht auftreten können? Viele sind 2020 ins Aufnahmestudio gegangen. Rachel Harris dagegen, Konzertmeisterin des in Hamburg ansässigen Originalklangensembles Schirokko, hat ein anderes, langgehegtes Herzensprojekt vollendet und ihre reiche praktische Erfahrung in ein Büchlein über Orchestertechnik gegossen. Erschienen ist es in Harris’ Muttersprache Englisch unter dem Titel „Orchestral Technique in action“.
Orchestertechnik? Was ist denn das? Kann man das Wunder in Worte fassen, das sich ereignet, wenn ein Organismus aus 12 oder auch 120 Individuen atmet, fühlt, sich in Klang ausdrückt?
Mini-Knigge, Achtsamkeit und Hierarchien
Harris nimmt die Sache von ihrer pragmatischen Seite. Herausgekommen ist ein Vademecum für ziemlich viele musikalische Lebenslagen. In klaren Worten, grundiert von einem feinen, warmen Humor, macht die Autorin immer wieder deutlich, wie eng menschliche und künstlerische Harmonie miteinander verknüpft sind.
Das reicht von einem Mini-Knigge grundlegender Höflichkeit – kein Kopfschütteln oder Tuscheln, wenn andere Fehler machen, das Handy ausschalten, nicht während der Probe gedankenverloren an den Saiten zupfen – über die meist unausgesprochene Hierarchie vom Dirigenten über Konzertmeister und Stimmführer zum Tutti bis hin zur Achtsamkeit für die Atmosphäre in den Instrumentengruppen und das Wohlbefinden einzelner Spieler.
Mobbing tritt auch in Orchestern auf
Mobbing kann auch in Orchestern ein Problem sein. Für freischaffende
Musiker ist die Zugehörigkeit zur Gruppe essenziell. Ein freundlicher und konstruktiver Kollege hat schlicht bessere Chancen, auch für ein nächstes Projekt wieder gefragt zu werden.
Einen Großteil ihrer Engagements bestreiten viele freischaffende Musiker in der Zusammenarbeit mit Kirchenchören. Um das häufig anzutreffende Niveaugefälle zwischen den Laiensängern und den instrumentalen Profis redet Harris nicht herum, sondern wirbt dafür, sich auf das gemeinsame Ziel zu konzentrieren – so schöne Musik wie möglich zu machen, jeder nach seinen Möglichkeiten.
Harris spricht sich gegen „digitales Proben“ aus
Gegen „digitales Proben“ zieht die Autorin entschieden zu Felde. Ihr Credo: Ausgiebiges Herumdoktern an technischen Details wirkt sich kontraproduktiv aus, wenn der musikalische (und emotionale) Zusammenhang verloren geht.
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Die Funktionen der Streichergruppen lesen sich wie ein kleines Soziogramm. Die erste Geige ist die Primadonna, die zweite wechselt wie ein Chamäleon zwischen Melodie, harmonischer Unterstützung und rhythmischem Drive. Die Bratsche hat mal überirdisch schöne, mal sterbenslangweilige Partien, das Cello hält den Laden am Laufen, und der Kontrabass wird oft erst vermisst, wenn er fehlt – hat aber die wichtigste Rolle für Rhythmus und Dynamik. Und wem das alles schon geläufig ist, der erfährt mit Interesse von der geheimen Macht nicht nur der Trompeten und Pauken, sondern auch der Posaunen.
Buch gibt Tipps für praktische Annäherung an Kunstausübung
Wie viel Persönliches bringe ich ein, und wie sehr ordne ich mich ein? Jeder Musiker muss aufmerksam bleiben dafür, was der Moment verlangt, ob Ausdruck und Spontaneität gefragt sind oder eher Homogenität und zuverlässiges Zusammenspiel.
Letztgültige Antworten gibt es nicht in der Musik. Doch Harris gibt ihren Lesern eine Reihe von Parametern an die Hand, die eine praktische Annäherung an das erlauben, was wir ehrfürchtig Kunstausübung nennen. Und das ist kein geringes Verdienst.
Rachel Harris: „Orchestral Technique in action“, Tredition, 60 S., gebunden 15,99 Euro, Taschenbuch 7,99 Euro, E-Buch 3,99 Euro